Praxis für Alternative Psychosomatik und Traumdeutung, Dr. Remo F. Roth, CH-8001 Zürich

Remo F. Roth

Dr. oec. publ., Ph.D.

dipl. analyt. Psychologe (M.-L. v. Franz)

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© copyright 1989 by Remo F. Roth, Zugerroseweg 5, CH-8810 Horgen-Zürich


 Stichworte:

Vegetatives Nervensystem und Chakras

Amplifikation


Archetypische Psychosomatik

Kapitel 1 bis 4:

Die Behandlung eines Falles von Multipler Sklerose mit Hilfe der Körperzentrierten Imagination oder Symptom-Symbol-Transformation

  


1. Einführung in das Wesen der archetypischen Psychosomatik

2. Ein Fall von Multipler Sklerose

3. Die Initialvision von der Lilie und die Meditation

4. Die Schilf-Vision und der konstellierte Schöpfungsmythos


1. Einführung in das Wesen der archetypischen Psychosomatik

Wenn man ernsthaft körperlich krank wird, wird man als erstes sicher zu einem Arzt gehen. Wenn man psychisch krank ist, wird man einen Psychotherapeuten oder einen Psychiater aufsuchen. Die Idee, dass man im Falle einer körperlichen Krankheit vielleicht auch auf der psychischen Seite arbeiten könnte, ist relativ neu. Es ist das neue Forschungsgebiet der Psychosomatik. In dieser versucht man, die Beziehungen zwischen einer körperlichen Krankheit und der psychischen Situation zu erhellen und hofft, dass man durch das Auffinden dieser Beziehung in einer psychotherapeutischen Behandlung eine Besserung oder sogar Heilung der körperlichen Krankheit bewirken kann.

Für die psychotherapeutische Behandlung körperlicher und psychosomatischer Krankheiten existieren heute schon einige verschiedene Ansätze. Im vorliegenden Buch werde ich aufzeigen, wie man auf dem Hintergrund der Psychologie C.G. Jungs körperliche Krankheiten psychotherapeutisch behandeln kann.

Wir werden diesen Prozess am Beispiel eines klinischen Falles verfolgen, der mich persönlich tief beeindruckt hat. Es ist der Fall einer Frau, die an Multipler Sklerose leidet. Diese Krankheit ist unheilbar. Ich werde also zeigen, wie in einem solchen Fall mit Hilfe meiner auf der Basis der Forschungen C.G. Jungs hergeleiteten theoretischen Ergebnisse eine Behandlung durchge-führt wurde. Um den Ablauf dieser Behandlung und - wie ich vorausschicken möchte - die Besserung des Krankheitsbildes verständlich machen zu können, vor allem aber auch, um darlegen zu können, wie aufgrund der Analytischen Psychologie C.G. Jungs eine neue Art der Psychosomatik möglich wird, müssen wir uns vorerst ein bisschen mit der Theorie beschäftigen. Sie soll hier so einfach wie möglich dargelegt werden, wobei aber betont werden muss, dass Vereinfachungen in einem gewissen Sinne immer auch Verfälschungen darstellen. Doch für eine erste Annäherung an die psychosomatische analytische Psychologie oder an die archetypische Psychosomatik, wie ich diese Methode nenne, genügt diese vereinfachte Theorie.

In allen Facetten der Psychologie und Psychotherapie ist die Psychologie Jungs und die daraus abgeleitete therapeutische Methode etwas ganz Eigenes. Vor allem ist sie wesentlich verschieden von der Psychologie Sigmund Freuds, von der Psychoanalyse. Dieser Unterschied wird heute noch sehr wenig gesehen, und vor allem an den Hochschulen spricht man einfach von der Tiefenpsychologie und meint damit die Freudsche und die Jungsche Richtung.

Worin einer der wesentlichsten Unterschiede besteht, wollen wir uns anhand einiger Schemas veranschaulichen. Alle tiefenpsychologischen Theorien stützen sich auf den Begriff des Unbewussten oder des Unterbewussten ab. Es ist das historische Verdienst Sigmund Freuds, das Unbewusste entdeckt zu haben. Das Wort sagt, was es ist: Es sind alle Inhalte, die dem Ich und dem Bewusstsein nicht bekannt sind. Dies bedeutet, dass in jedem Individuum seelische Tatbestände existieren, von denen es aber nichts weiss. Doch hat Sigmund Freud erkannt, dass dieses Unbewusste Auswirkungen auf das Bewusstsein haben kann, so dass wir aufgrund dieser Auswirkungen indirekt schliessen können, dass es existiert. Das heute berühmteste Beispiel einer solchen Auswirkung des Unbewussten auf das Bewusstsein sind die Freudschen Fehlleistungen, vor allem die Versprecher. Man möchte etwas sagen, ein unbewusster Komplex kommt dazwischen, und man verspricht sich.

Sigmund Freud hat angenommen, dass alles Unbewusste einmal bewusst war. Unbewusst wurden diese Inhalte durch Vergessen oder Verdrängen. Verdrängt werden vor allem unangenehme Dinge, negative Gefühle, das schlechte Gewissen, in den Zeiten Freuds noch sexuelle Phantasien, usw. Das Unbewusste Freuds ist deshalb eine Art Abfallkübel für alle diese unangenehmen Gedanken und Phantasien. In der Terminologie C.G. Jungs stellt das Unbewusste Freuds das sogenannte persönliche Unbewusste oder den Schatten dar.

Nun hat schon Freud bemerkt, dass es Träume gibt, welche sogenannte archaische Reste enthalten. Es handelt sich dabei um Motive, die aus der persönlichen Psychologie des Träumers nicht erklärt werden können. So sah C.G. Jung beispielsweise bei einem Psychotiker im Burghölzli das Motiv eines Sonnenphallus: Dieser Patient erzählte immer wieder dieses eine Bild von der Sonne, von welcher Schläuche auf die Erde herunterhingen. Es handelt sich dabei um ein Motiv aus dem Gilgamesch-Epos, einer mythologischen babylonischen Sage, die zur Zeit Jungs noch nicht in eine westliche Kultursprache übersetzt worden war. Der Träumer konnte davon also nichts wissen, und doch erschien das Motiv in seinen Träumen und Phantasien. Aufgrund solcher und ähnlicher Erfahrungen schloss Jung, dass unter dem von Freud entdeckten persönlichen Unbewussten eine tiefere Schicht liegen musste, welche allgemein-menschlich ist. Er nannte diese das kollektive Unbewusste. Dessen Inhalte sind kollektiv in dem Sinn, dass es sich dabei um menschheitsspezifische Ideen handelt. Diese Ideen hat Jung Archetypen genannt.

Unter den Archetypen stellt man sich meist etwas unglaublich Kompliziertes vor. Um eine lebendige Vorstellung eines Archetypus zu bekommen, gibt es jedoch ein ganz einfaches Verfahren: Erinnert man sich an einen Traum, der viele Jahre oder gar Jahrzehnte zurückliegt, handelt es sich mit grösster Wahrscheinlichkeit um einen Traum aus dem kollektiven Unbewussten, welcher solche archaischen Reste oder eben archetypische Motive enthält. Als Beispiel möge der Archetypus des Hegenden oder den Mutterarchetypus dienen, welcher durch viele verschiedene Bilder wie z.B. durch den Baum, durch die Höhle, durch die Kröte, die Schildkröte, oder, wie beispielsweise im Fall meiner Klientin, durch den Dinosaurier dargestellt werden kann.

Arbeitet man in einer analytischen Psychotherapie mit den spontanten Äusserungen des Unbewussten, kann dies immer auf zwei Ebenen geschehen, auf jener des persönlichen oder auf jener des kollektiven Unbewussten (vgl. Abb. 1.1, obere Hälfte). Die Schulmeinung besteht dabei darin, dass man zuerst den Schatten bearbeiten, das heisst sich mit den Träumen und Phantasien aus dem persönlichen Unbewussten beschäftigen sollte, und dass dann vielleicht mit der Zeit Träume aus dem kollektiven Unbewussten auftauchen werden. Wir werden im folgenden sehen, dass diese Reihenfolge im Falle einer schweren körperlichen Krankheit nicht gilt. In solchen Situationen kann die Notwendigkeit bestehen, dass man sich von Anfang an mit den Träumen und Visionen aus dem kollektiven Unbewussten beschäftigen muss. Darin besteht zugleich einer der wesentlichen Unterschiede zwischen der archetypischen und jeder anderen Psychosomatik. Da die meisten psychosomatischen Theorien die Hypothese des kollektiven Unbewussten entweder nicht kennen oder dann nicht akzeptieren, können sie auch nicht gezielt mit den Träumen, Phantasien und Visionen aus dieser Schicht des Unbewussten arbeiten.

 

 

 Abbildung 1.1:

 

Bei der Multiplen Sklerose handelt es sich um eine Erkrankung des Nervensystems. Wir werden auf diesen Aspekt unten zurückkommen. An dieser Stelle interessiert uns vorerst die Struktur des menschlichen Nervensystems (vgl. Abb 1.1, untere Hälfte). Wir Menschen orientieren uns nach aussen mit Hilfe unserer fünf Sinne. Deren Reize werden zum Zentralnervensystem und zum Gehirn geleitet, wo sie verarbeitet werden. Wesentlich daran ist, dass es sich dabei um die Verarbeitung äusserer Reize handelt, Reize aus der Umwelt. Das Zentralnervensystem und die Sinne beschäftigen sich also vor allem mit dem Aussen, sie sind nach aussen gerichtet.

Unter dem Zentralnervensystem existiert jedoch noch ein weiteres, das unwillkürliche oder vegetative Nervensystem. Dieses wirkt innerlich. Es kontrolliert die inneren und die unwillkürlichen Prozesse. Es sorgt beispielsweise dafür, dass der Magen und die Därme funktionieren, ist dafür verantwortlich, dass unser Herz auch schlägt und die Atmung auch funktioniert, wenn wir schlafen. Es ist zudem ein selbstregulierendes System, in welchem der Sympathikus und der Parasympathikus als Gegenspieler einander die Waage halten.

C.G. Jung hat nachgewiesen, dass das kollektive Unbewusste ebenfalls innerlich wirkt und zudem, dass es sich um ein selbstregulierendes System handelt. Im Normalfall reguliert es sich und das Bewusstsein selbst. Diese Hypothese C.G. Jungs wurde durch die Schlafforschung bewiesen, welche gezeigt hat, dass Träume - die Spontanprodukte des Unbewussten - im Normalfall die Selbstregulation der Psyche bewirken. Weckt man nämlich Versuchspersonen bei Beginn eines Traumes, so dass sie nie zum Träumen kommen, bewirkt dieser Eingriff in jedem Fall eine schwere psychische Störung.

Wenn wir nun wie in Abbildung 1.1 die beiden obigen Schemas aufeinanderlegen, sehen wir gleichzeitig ein Bild der Struktur der Psyche einerseits und der Struktur des Nervensystems andererseits. Dabei habe ich ganz bewusst die beiden Schemas so angeordnet, dass das kollektive Unbewusste und das vegetative Nervensystem aufeinander zu liegen kommen. Beide sind innere Anpassungssysteme und beide sind selbstregulierend. Es lässt sich deshalb vermuten, dass das vegetative Nervensystem den physischen Aspekt des kollektiven Unbewussten darstellt. Oder anders ausgedrückt: Dasselbe unbekannte Wesen nennen wir auf der körperlichen Seite vegetatives Nervensystem und auf der psychischen Seite kollektives Unbewusstes. Diese Aussage stimmt überein mit einer Hypothese, die C.G. Jung in seinem Spätwerk Mysterium Coniunctionis schon geäussert hat: 

»So gut nämlich der Mensch einen Körper hat, der sich im Prinzip vom Tierleib nicht unterscheidet, so hat auch seine Psychologie gewissermassen untere Stockwerke ... zu allertiefst die transzendente Unbegreiflichkeit und Paradoxie der sympathischen und parasympathischen psychoiden Vorgänge« .

Die Einsicht, dass das vegetative Nervensystem den körperlichen Aspekt eines psychischen Tatbestandes darstellt, ist jedoch schon viel älter. Man findet sie bereits im hinduistischen und buddhistischen Tantrismus, dessen Wurzeln bis ins 8. Jahrhundert unserer Zeitrechnung zurückreichen. Die Tantriker sprechen diesbezüglich von einem System von sogenannten Chakras, welche sich über den Körper verteilen. Sie gehören zu einer »geistigen« Welt, welche man durch Meditation erreichen kann. Als Folge dieser Meditation öffnet man diese, und ihre Energie wird befreit.

Diese Chakras stellen in der Sprache Jungs Archetypen dar, bilden somit Inhalte des kollektiven Unbewussten. Doch entspricht der somatische Aspekt dieser Chakras - jene Körperstellen, an denen die Tantriker diese Energiezentren lokalisieren - gewissen Nervenknoten, den sogenannten Plexen des vegetativen Nervensystems. Der bekannteste davon ist der Plexus solaris, das Sonnengeflecht in der Magengegend, welches in unserem Zusammenhang eine äusserst wichtige Rolle spielen wird. Der Tantrismus weiss somit seit mehr als tausend Jahren von diesen Zusammenhängen zwischen der Psyche und der Physis, zwischen dem kollektiven Unbewussten und dem vegetativen Nervensystem.

 

 

 Abbildung 1.4: Die tantrischen Chakras und das vegetative Nervensystem

 

Der Tantriker unterscheidet zwei (genauer drei) Wesensaspekte des Körperlichen. Jener Aspekt, den der westliche Esoteriker als den grobstofflichen Körper bezeichnet, nennt der Tantriker dessen sthula-Aspekt. Daneben existiert ein psychischer oder metapsychischer Aspekt - in der Terminologie C.G. Jungs würde man hier von einer objektivpsychischen Realität sprechen -, der suksma-Aspekt des Körpers, welcher nur durch Introspektion erfahren werden kann. Diese innere suksma-Realität entspricht weitgehend der westlichen esoterischen subtle body-Idee, der Idee des Hauchkörpers. So weiss der Tantriker, dass seine Chakras einerseits den vegetativen Zentren des grobstofflichen Körpers entsprechen, andererseits glaubt er jedoch daran, dass sie Teil einer höheren »metapsychischen« Realität sind. Seine Aufgabe besteht darin, die suksma-Realität aus dem sthula-Aspekt des Körpers zu befreien.

Wenn wir den Begriff des »Metapsychischen« durch den empirisch nachweisbaren der objektivpsychischen Realität (des kollektiven Unbewussten C.G. Jungs) ersetzen, sehen wir unmittelbar, dass der Tantriker in der Vorstellung lebt, dass aus dem grobstofflichen Körper ein objektivpsychischer Aspekt desselben herausdestilliert werden muss, den die westliche Esoterik den Hauchkörper (subtle body) nennt.

Wie wir unten sehen werden, entspricht diese tantrische Idee jener der westlichen Alchemisten: Auch sie wollen durch eine introvertierte Meditation einen »Geist« befreien, der in der »Materie« verborgen ist. Wird diese »Materie«, wie bei Paracelsus, auf den menschlichen Körper bezogen, folgt daraus fast zwangsläufig die Idee des Aufbaus eines »feinstofflichen« und »geistigen« Körpers (des Hauchkörpers oder subtle body) aus dem grobstofflichen.

Die zentrale Hypothese der archetypischen Psychosomatik, welche mit der tiefsten Erfahrung des Tantrismus übereinstimmt, besteht also darin, dass das vegetative Nervensystem und das kollektive Unbewusste ein und dasselbe sind. Wir können dieses Eine entweder auf der physischen Ebene als vegetative Symptome oder dann auf der psychischen Ebene als innere, symbolische Bilder wahrnehmen. Diese beiden Wahrnehmungen bilden jedoch die zwei Seiten der einen Medaille.

Wie wir bereits gesehen haben, gilt das persönliche Unbewusste, das Unterbewusste nach Freud, sozusagen als Abfallkübel für alles Verdrängte, d.h. für alles Unangenehme. Wenn man heute vom Unbewussten spricht, so assoziiert man daher damit fast immer etwas Unangenehmes.

Die revolutionäre Entdeckung C.G. Jungs besteht nun aber im Gegensatz zur Auffassung Sigmund Freuds darin, dass ersterer nachgewiesen hat, dass das kollektive Unbewusste einen schöpferischen Aspekt besitzt. Das heisst mit anderen Worten, dass sich im kollektiven Unbewussten Ideen befinden, die noch nie bewusst waren. Schöpferische Individuen haben dann die Aufgabe, diese noch nie bewussten Ideen bewusst zu machen. Die Verbreitung dieser neuen Ideen wandelt anschliessend nach einer Latenzzeit, welche erfahrungsgemäss zwischen 50 und 100 Jahre beträgt, den Zeitgeist. Dieser Nachweis des schöpferischen Aspektes des kollektiven Unbewussten durch C.G. Jung ist von ausserordentlicher Tragweite für die Weiterentwicklung der Psychologie, der Psychotherapie und der Psychosomatik.

Wir wollen uns das Gesagte noch einmal veranschaulichen. Gemäss Sigmund Freud ist das Unbewusste eine Art Abfallkübel, in welchen alle Gedanken und Gefühle, die man nicht so gern hat, hineinfallen - durch Verdrängen und Vergessen. Dieser Kübel füllt sich immer mehr mit »Bewusstseins-Abfall«. Irgendwann einmal ist er so voll, dass er überläuft. Deshalb drückt nun das Unbewusste ins Bewusstsein durch. Diesen Zustand nennt man in der Psychopathologie eine Neurose, welche man mit Hilfe einer Psychotherapie behandeln muss.

Auch C.G. Jung anerkennt das Freudsche Unterbewusste und nennt es das persönliche Unbewusste oder den Schatten. Auch nach seiner Theorie muss man sich in einer bestimmten Phase der Therapie damit auseinandersetzen. Unter dem Schatten oder dem persönlichen Unbewussten befindet sich aber das kollektive Unbewusste mit seiner schöpferischen Qualität. Aus diesem schöpferischen Urgrund können nun neue Ideen in das Bewusstsein drängen und dieses verwirren. Auch solche kreative Menschen beginnen unter Umständen eine Analyse, um dieser beim Durchbruch des kollektiven Unbewussten entstehenden Verwirrung Herr zu werden. Diesen Menschen muss man jedoch klar machen, dass sie an einer von C.G Jung so genannten fakultativen Neurose leiden, d.h. an einer Neurose, die sofort verschwindet, wenn die bildhaften kreativen Ideen aus dem Unbewussten verbalisiert und damit bewusst gemacht worden sind.

Eine fakultative Neurose hat somit nichts mit Verdrängung zu tun, sondern damit, dass sich das kollektive Unbewusste schöpferisch äussern möchte, jedoch von einem zu engen Bewusstsein nicht verstanden wird. Die Folge sind auf der psychischen Seite Verwirrungszustände und Depressionen des Betroffenen, auf der physischen Seite äussert sich eine solche nicht realisierte Geburt einer schöpferischen Idee nicht selten im Ausbruch einer schweren Krankheit. Wir werden unten sehen, dass auch meine MS-Patientin an dieser Problematik einer fakultativen Neurose litt.

Bereits an dieser Stelle möchte ich noch auf eine weitere Folge der Entdeckung des kollektiven Unbewussten durch C.G. Jung hinweisen: Wenn man (frau) ein solches Etwas in sich spürt, eine zeugende und gebärende Kraft, welche den betroffenen Menschen im schwangeren Zustand mitreisst, welche grösser und umfassender ist als sein Bewusstsein, dieses fördern aber auch zerstören kann, kommt man nicht umhin, sich die Frage zu stellen, was dieses grössere Innere denn sei. Mit anderen Worten: Ein Mensch, in welchem sich der schöpferische Geist inkarniert hat, kommt an die religiöse Frage heran. Die Hinwendung zur eigenen Innenwelt führt deshalb unweigerlich in die Frage nach dem Gottesbild, das ein von einer fakultativen Neurose betroffener Mensch in sich trägt.

Wenn man sich nun der Innenwelt zuwendet, wird man auf deren Äusserungen hören lernen. Auf der psychischen Seite sind dies Träume, Phantasien, innere Bilder und eigentliche Visionen. Derart nähert man sich vielleicht irgendwie und irgendwann einmal dieser schöpferischen Funktion des kollektiven Unbewussten an. Da das vegetative Nervensystem dem physischen Aspekt des kollektiven Unbewussten entspricht, findet auch in diesem vegetativen Nervensystem ein Neuschöpfungsprozess statt, welcher sich als Besserung oder Heilung einer Krankheit äussern kann.

Damit sind wir beim entscheidenden theoretischen Hintergrund einer psychosomatischen Theorie auf der Basis der Entdeckungen C.G. Jungs angelangt: Wenn jemand an einer somatischen Krankheit erkrankt, ist dieser Zustand ganz offensichtlich mit Zerfallserscheinungen auf der körperlichen Seite verbunden. Nun wissen wir aber seit C.G. Jung, dass das kollektive Unbewusste psychische Zerfallserscheinungen durch neue Ideen, durch seine ursprüngliche Kreativität kompensiert. Wendet man diese auf die Psychosomatik an, kann folgende Hypothese aufgestellt werden:

Auch im Fall einer körperlichen Krankheit findet im kollektiven Unbewussten eine entsprechende Kompensation statt, indem ein ganz bestimmter Archetypus konstelliert wird. Wie wir sehen werden, handelt es sich dabei um einen Schöpfungsmythos. Wenn wir somit diesen im kollektiven Unbewussten konstellierten Schöpfungsmythos finden können, besteht eine grosse Wahrscheinlichkeit, dass auch im vegetativen Nervensystem eine Neuschöpfung beginnt, welche sich schliesslich als Besserung oder als Heilung einer Krankheit äussert. Diese Entwicklung ist eben deshalb sehr wahrscheinlich, weil das vegetative Nervensystem und das kollektive Unbewusste die zwei Seiten der einen Medaille darstellen. Wenn also auf der psychischen Seite ein Schöpfungsmythos in Gang kommt, ist auch auf der physischen Seite eine Neuschöpfung geschehen.

Mit diesen Ausführungen sind wir bei der Aufgabe gelandet, die man sich bei einer psychosomatischen Therapie im Sinne C.G. Jungs stellen muss: Wir müssen den im kollektiven Unbewussten konstellierten Schöpfungsmythos finden, welcher die Krankheit kompensiert. Die Bewusstwerdung über diesen Schöpfungsmythos beinhaltet dann vielleicht eine Neuschöpfung im vegetativen Nervensystem und diese eine Besserung der Krankheit.

Wir wissen heute, dass die Vorgänge im vegetativen Nervensystem einen entscheidenden Einfluss auf das Immunsystem ausüben. So hat zum Beispiel die Stressforschung gezeigt, dass gewisse Formen der Meditation nicht nur zu Veränderungen im vegetativen Nervensystem führen, sondern zudem das Immunsystem stärken. Eine Methode, welche das Immunsystem stärkt, hat ihrerseits beste Aussichten, zu einem neuen Heilfaktor für viele moderne Zivilisationskrankheiten zu werden. Sollte es in der nächsten Zeit nicht möglich sein, eine Impfung gegen AIDS zu entwickeln, dürften solche meditative Methoden zur Stärkung des Immunsystems als einzige Möglichkeit der Therapie übrig bleiben.

Nun existieren aber viele verschiedene Schöpfungsmythen. Wir stehen daher vor der Aufgabe, aus den individuellen Träumen, den Phantasien und den Visionen eines kranken Menschen den in ihm konstellierten Schöpfungsmythos bewusst zu machen. Wie dies geschieht, werden wir am bereits erwähnten Beispiel einer Multiplen Sklerose mitverfolgen können.

Wir können die bisherigen Erkenntnisse in der folgenden Tabelle zusammenfassen:

 

1.

Das kollektive Unbewusste und das vegetative Nervensystem sind die zwei Seiten der einen Medaille

2.

Das kollektive Unbewusste ist spontan schöpferisch, es kann aus sich selbst heraus etwas Neues produzieren

3.

Die Krankheit, welche Abbau und Zerstörung bedeutet, wird kompensiert durch einen Schöpfungsmythos, der im kollektiven Unbewussten verborgen ist

4.

Wir stellen uns daher die Aufgabe, diesen Schöpfungsmythos im Unb-wussten zu finden

5.

Wir machen dem Kranken diesen Schöpfungsmythos bewusst, d.h. wir erzählen ihm, welcher Schöpfungsmythos in seinem Unbewussten konstelliert ist

6.

Parallel zu dieser Bewusstwerdung über seinen individuellen Schöpfungsmythos geschieht auf der Ebene des vegetativen Nervensystem im Sinne eines negentropischen beziehungsweise syntropischen Prozesses ebenfalls ein Neuschöpfungsprozess

7.

Dieser Aufbauprozess im vegetativen Nervensystem bewirkt eine Besserung oder vielleicht sogar Heilung der Krankheit

Übersicht 1.1: Zusammenfassung

 

 

2. Ein Fall von Multipler Sklerose

Das Wesen der archetypischen Psychosomatik lässt sich am besten an einem Beispiel aus der Praxis darlegen. Zu diesem Zweck habe ich einen Fall von Multipler Sklerose ausgewählt, einerseits, weil sich hier in den ersten Visionen der Patientin der konstellierte Schöpfungsmythos sehr schnell herausschält, andererseits weil es sich dabei um eine unheilbare Krankheit handelt. Dabei ist zu betonen, dass die Diagnose MS vor Behandlungsbeginn mit Hilfe der üblichen Standardtests verifiziert worden war.

Bereits an dieser Stelle scheint mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich das Krankheitsbild der Klientin im Verlauf von ungefähr drei Jahren wesentlich gebessert hat. Während sie zu Beginn der Behandlung nicht mehr fähig war, auf ihren Beinen zu stehen, war sie danach in der Lage, ohne Stöcke wieder gehen. Offensichtlich zeigt sich, dass die Bewusstwerdung über den in ihr konstellierten Schöpfungsmythos einen Einfluss auf den Verlauf der Krankheit hatte.

Multiple Sklerose ist eine Krankheit des Zentralnervensystems. Sie befällt das Gehirn und vor allem das Rückenmark. Der Krankheitsverlauf ist ungefähr folgender: Die Nervenstränge des Rückenmarks sind - etwa wie elektrische Kabel - eingebettet in eine Schutzschicht, in die sogenannte Myelinschicht, welche die Nervenstränge vor äusseren Einflüssen schützt. Bei der MS gibt es nun an verschiedenen Orten - deshalb der Ausdruck »multipel« - dieser Nervenstränge Stellen, an welchen sich diese Myelinschicht auflöst. Der Körper produziert dann an diesen Stellen hartes Gewebe - sklerotisches Gewebe - welches die Nervenleitung empfindlich stört. Damit ergeben sich meist als erstes Empfindungsstörungen in den Fingern und Zehen, dann folgen Gleichgewichtsstörungen, die Beine versagen und man kann nicht mehr gehen. Auch die Feinmotorik verschlechtert sich dramatisch; man kann mit den Händen keine exakten Arbeiten mehr ausführen, beispielsweise einen Nähfaden in ein Nadelöhr einfädeln oder Kreise aus Papier oder Karton ausschneiden, usw. Mit der Zeit ergibt sich als Folge der MS des öfteren eine sehr schwere Behinderung. Weiter werden die Sinne in Mi-leidenschaft gezogen, vor allem die Augen. Zudem sind Störungen der Blase sehr häufig. Die Multiple Sklerose ist somit eine furchtbare Krankheit, in welcher man bei klarem Bewusstsein zusehen muss, wie die Motorik und das Nervensystem des Körpers langsam aber sicher immer mehr eingeschränkt werden.

Als ich meine Klientin kennen lernte, besass sie bereits schon all diese Symptome. Ihre MS war vom Typus des chronisch-progredienten Verlaufs. Dies bedeutet, dass die Verschlechterung des Zustandes ziemlich gleichmässig geschieht, im Gegensatz zur anderen, bekannteren Form, in welcher Schübe und Remissionen auftreten, worin also diese Verschlechterung des Zustandes wellenförmig verläuft. Vier Jahre lang litt meine Klientin bereits schon an dieser chronisch-progredienten Form der MS. Eine derart langjährige chronisch-progrediente MS hat eine sehr schlechte Prognose. Meines Wissens gibt es in der Fachliteratur keinen Fall, in welchem unter diesen Umständen eine Besserung eingetreten wäre.

Nach diese vier Jahren MS konnte meine Klientin sich kaum mehr bewegen. Sie konnte mit äusserster Anstrengung vielleicht noch etwas kriechen, war jedoch völlig auf fremde Hilfe angewiesen. Sie lebte noch in ihrer Wohnung, doch musste sie täglich von der Hauspflege und der Krankenschwester besucht werden. In diesem hilflosen Zustand sagte sie sich schliesslich das Natürlichste auf der Welt: Ich will sterben. Sie hatte bereits die EXIT-Vereinigung bestellt, alle Vorkehrungen für ihren Freitod waren getroffen.

In diesem Zustand traf ich diese Frau. Nach drei Jahren Therapie sah das Zustandsbild folgendermassen aus: Sie konnte mit Hilfe eines Stockes wieder gehen, die Feinmotorik hatte sich wesentlich erholt, so dass sie wieder nähen (incl. Nadel einfädeln), basteln und schreiben konnte. Sie wurde zudem wesentlich unabhängiger von fremder Hilfe. Das Sehen hatte sich verbessert, ebenso das Sprechen. Auf der psychischen Seite hatte sie ihre Hoffnungslosigkeit hinter sich gelassen und einen neuen Lebenssinn erkannt. Eine physische und psychische Erholung und Besserung hatte sich eingestellt, die mich selbst äusserst erstaunte, hatte doch auch ich angenommen, dass allerhöchstens eine Stabilisierung, niemals aber eine Besserung des Zustandes möglich sei.

Wir werden weiter unten sehen, dass die Bewusstwerdung über den persönlichen, in ihrem Unbewussten konstellierten Schöpfungsmythos dazu beigetragen hat, dass sich diese erstaunliche Besserung einstellte. Dieser Bewusstwerdungsprozess entspricht dem in meinem Buch Hat AIDS einen Sinn? beschriebenen: Meine Klientin Sarah liess sich in einen Zustand fallen, in welchem sie regelmässig innere Bilder schaute. Sie erzählte mir diese Visionen, und ich deutete ihr diese. Mit der Zeit kristallisierte sich derart der in ihrem Unbewussten konstellierte Schöpfungsmythos heraus. Im nächsten Kapitel wollen wir uns daher mit diesem etwas näher befassen.

 

 

3. Die Initialvision von der Lilie und die Meditation

Die im folgenden zu deutenden Visionen bilden den Beginn einer Serie von ungefähr 30 Visionen, die sich im Verlaufe der drei Jahre Therapie einstellten. Gemäss meinen obigen Ausführungen sind wir somit vor die Aufgabe gestellt, den in meiner Klientin konstellierten Schöpfungsmythos zu finden, der ihrer körperliche Krankheit kompensiert. Mit grösster Wahrscheinlichkeit finden wir diesen Schöpfungsmythos in den Visionen meiner Klientin, da diese aus der tiefsten Schicht des Unbewussten, aus dem von C.G. Jung so genannten kollektiven Unbewussten stammen. Wir werden bei dieser Deutungsarbeit auf ein Phänomen stossen, welches C.G. Jung Selbstamplifikation (oder auch Zirkumambulation) des Archetypus genannt hat: Die Zentralidee des im kollektiven Unbewussten konstellierten Schöpfungsmythos taucht in vielen Visionen immer und immer wieder auf. Mit immer neuen Bildern wird diese Zentralidee umkreist (= Zirkumambulation!) bis das Bewusstsein begriffen hat, worum es diesem Schöpfungsmythos geht.

Dieser empirisch zu beobachtende Tatbestand bedeutet für den Therapeuten eine gewisse Entlastung. Es ist nicht von Bedeutung, wenn er vielleicht einmal eine Vision nicht versteht, denn das Wissen des kollektiven Unbewussten wird den Sinngehalt dieser Vision in einem anderen Bild erneut ausdrücken. Viel wichtiger ist, dass der Therapeut die Entwicklung der Visionenserie verfolgt, so dass er auch eventuell auftauchende destruktive Tendenzen frühzeitig erfassen und den Klienten darauf hinweisen kann.

Bevor wir mit der Deutung der Visionen beginnen können, muss ich mit einem weit verbreiteten Vorurteil aufräumen. Die meisten Menschen assoziieren mit dem Ausdruck »Vision« sofort »Krankheit«, nämlich eine Geisteskrankheit, d.h. eine Psychose oder eine Schizophrenie. C.G. Jung hat im Gegensatz zu dieser auch unter Psychiatern weitverbreiteten Meinung immer wieder betont, dass Visionen, d.h. innerlich geschaute Bilder, an sich kein Symptom einer Geisteskrankheit sind. Es kommt einzig und alleine darauf an, wie das Bewusstsein sich zu diesen inneren Bildern einstellt. Wenn ein Mensch die Demut aufbringt sich einzugestehen, dass in diesen Bildern vielleicht Gott oder eine göttliche Instanz, vor allem aber ein allwissendes Wesen sich äussert, dann hat er eine echte mystische Beziehung zu diesem grösseren inneren Wesen geschaffen. Und das ist der grosse Unterschied zum psychotischen Zustandsbild. Mystiker aller Zeiten und aller Religionen haben immer nach innen geschaut und mit Hilfe von Visionen und Auditionen (Stimmen) erfahren, dass sie mit dem Göttlichen in Beziehung stehen. Mir scheint, dass heute eine äusserst dringende Notwendigkeit besteht, einer solchen erneuerten Mystik zur Wiedergeburt zu verhelfen.

Ich werde im folgenden die Initialvision und anschliessend einige weitere Visionen deuten. Dieser Deutungsprozess wird uns zeigen, wie im kollektiven Unbewussten eine neue Idee, eine neue Anschauung geboren worden ist, wie durch die Deutung dieser Visionen dann auch das Bewusstsein geändert wird und wie dieses gewandelte Bewusstsein zusammen mit dieser neuen Idee aus dem kollektiven Unbewussten heilend und bessernd auf eine körperliche Krankheit wirken kann.

Wir stehen also vor der interessanten Tatsache, dass die Bewusstwerdung über die Neuschöpfung im kollektiven Unbewussten einerseits eine Neuschöpfung im vegetativen Nervensystem nach sich zieht, andererseits eine tiefgreifende Wandlung des Bewusstseins. Es gibt somit innerhalb der archetypischen Psychosomatik zwei Heilungsfaktoren für die Krankheit: Erstens eine Wandlung und Neuschöpfung im kollektiven Unbewussten und damit im vegetativen Nervensystem und zweitens eine Wandlung des Bewusstseins. Wir werden auf diese Zusammenhänge im 10. Kapitel nochmals zurückkommen.

Wenden wir uns nun der Deutung der ersten Vision zu. Initialvisionen sind nach der Erfahrung C.G. Jungs insofern hochinteressant, als sie den im kollektiven Unbewussten konstellierten Prozess, in unserem Fall Sinn und Inhalt des Schöpfungsmythos, in einem oder mehreren prägnanten Bildern zusammenfassen. Es lohnt sich deshalb immer, die ersten Visionen einer Serie ganz genau unter die Lupe zu nehmen und so exakt wie möglich zu deuten.

Der Inhalt der ersten Vision meiner Klientin - ich werde sie im folgenden Sarah nennen - ist ganz kurz und ganz einfach, ein Tatbestand, der nebenbei gesagt für fast alle Visionen der Serie gilt:

 

Die erste Vision:

Sarah sieht in ein Stück Tuch eine rot-gelb geflammte Lilie (Feuerlilie) hineingestickt.

 

Um solche Visionen und Träume aus dem kollektiven Unbewussten zu verstehen, hat C.G. Jung eine spezielle Methode entwickelt. Er nennt sie Amplifikationsmethode: Man sucht in der Geschichte der Menschheit, das heisst vor allem in den Mythologien der verschiedenen Kulturen, nach dem betreffenden Motiv, hier also nach der Lilie, und fragt sich, was dieses Motiv darin symbolisch bedeutete und ausdrückte. Ein solches methodisches Vorgehen nennt C.G. Jung daher Amplifikation (engl. to amplify = verstärken). Man verstärkt das Motiv, wie mit einem elektrischen oder elektronischen Verstärker in der Musik, so dass man sie lauter, deutlicher, klarer, mit mehr Finessen hört. Derart wird in unserem Fall das Symbol Lilie mit immer neuem Sinn belebt.

Wenn wir zur Lilie amplifizieren, sehen wir ziemlich schnell die Richtung, in welche dieses Symbol weist:

In der christlichen Mystik bedeutet die Lilie die sogenannte sobria ebrietas, d.h. nüchterne Trunkenheit, und diese symbolisiert natürlich die Kontemplation und Meditation, die Beziehung zur eigenen Innenwelt, somit die Beziehung zum kollektiven Unbewussten. Wir erhalten damit ein erstes, höchst interessantes Resultat: Sarah hat auf mein Geheiss hin nach innen geschaut, sie fällt in einen meditativen Zustand und was sieht sie als erstes: Eine Blume, die ihr sagt: Ich bin die Meditation. Damit war für mich klar, dass die Meditation über die von mir so genannte "Innenansicht des Körpers", das heisst die Körperzentrierte Imagination oder Symptom-Symbol-Transformation die richtige Methode für unsere gemeinsame Arbeit war.

Diese erste Erkenntnis über die Bedeutung der Lilie zeigt uns noch ein weiteres: Die Selbstregulations-Tendenz des kollektiven Unbewussten. Wäre nämlich meine Klientin in einem präpsychotischen Zustand gewesen, wäre somit das Meditieren für sie gefährlich geworden, hätte das kollektive Unbewusste sicher ein negatives und destruktives Bild der Meditation gezeichnet. Ich hätte dann meiner Klientin von dieser abraten müssen.

Fahren wir nun mit der Amplifikation weiter. Die Lilie hat nämlich noch weitere Bedeutungen. Wenn man sich fragt, welche Art der Meditation die Lilie bedeuten könnte - es existieren ja viele verschiedene Arten von Meditation -, gibt uns die Lilie der Alchemie darüber Auskunft. Dort bedeutet die Lilie eine Meditation über das Göttliche, eine Meditation darüber, was dieses Göttliche ist und wie es in mir wirkt.

Wenn wir psychologisch argumentieren, müssen wir diese Aussage allerdings ein bisschen einschränken. Wir können nämlich nicht über das absolut Göttliche meditieren, wir können uns nur mit dem in unserem Inneren wirkenden Gottesbild befassen. Jeder Mensch trägt aber ein individuell gefärbtes Gottesbild in sich. Die Lilienvision erklärt meiner Klientin Sarah somit ganz präzis, welche Art von Meditation ihrer Aufgabe entspricht. Sie erhält die Aufgabe herauszufinden, welches Gottesbild in ihr wirkt.

Wenn wir nun ein bisschen verallgemeinern, die Lilie ein bisschen abstrakter ansehen, so fällt auf, dass sie aus einem sechsfachen Stern besteht. Es gibt Blumen, beispielsweise die Rose, welche eine Fünferstruktur besitzen, andere wiederum eine Viererstruktur, wie beispielsweise die Clematis, usw. Die Lilie ist dagegen durch die Zahl Sechs charakterisiert. Wir müssen uns also fragen, was dieser sechsteilige Stern bedeuten könnte. Wenn wir ihn genauer ansehen, fällt uns auf, dass er eigentlich aus zwei Dreiheiten besteht: Drei Blätter sind vorn und drei sind hinten, oder drei oben und drei unten. Die Blätter der Lilie bilden somit eine Doppeldrei-Struktur: Eine Drei oben und eine Drei unten. Das ist sehr wichtig, weil wir damit einen ersten Hinweis darauf erhalten haben, wie das innere Gottesbild dieser Frau aussehen wird. Diese Doppeldreiheit wird im folgenden eine wichtige Rolle spielen.

Da die Sechs in der ersten Vision eine derart zentrale Rolle spielt, müssen wir uns nun mit der Symbolik der Zahl Sechs befassen. Wenn man im Besitz eines Zirkels ist, kann man damit einen Kreis zeichnen. Man kann diesen Vorgang etwas archaischer auch mit einer Astgabel vollziehen. Derart stelle ich mir immer die ersten Geometer vor, die den Kreis entdeckt haben. Sie sitzen meditierend im Sand, plötzlich fällt eine Astgabel vom Baum. Sie schauen sich diese an und kommen plötzlich auf die Idee, das eine Ende in den Sand zu stecken und das andere zu drehen, und siehe da: Ein Kreis entsteht, wie die Sonne oder wie der Vollmond, die einzigen natürlichen Kreise in unserer Welt. Für unseren Geometer war dies sicher ein unglaublich tiefes Erlebnis. Er hatte sozusagen die Sonne oder den Vollmond im Sand nachgebildet. Für die weiteren Ausführungen wollen wir uns die wichtige Tatsache merken, dass der Kreis sowohl mit der Sonne als auch mit dem Mond, mit dem Männlichen wie auch mit dem Weiblichen verbunden ist.

Wenn unser archaischer Geometer mit seiner Astgabel weitermacht, kommt er irgendwann einmal auf die Idee, auf der Peripherie des Kreises den Radius abzutragen, das heisst die Distanz, welche durch die zwei Enden der Astgabel gegeben ist. Und nun geschieht für ihn ein Wunder: Dies kann er genau sechs mal tun. Nicht vier, nicht sieben, nicht zehn mal, nein, genau sechs mal. Damit hat er aber auch das Sechseck gefunden.

Aus den sechs auf der Kreisperipherie angeordneten Punkten lässt sich aber nicht nur das Sechseck, sondern auch das berühmte Siegel Salomos konstruieren. Es besteht aus der Vereinigung zweier gleichseitiger Dreiecke, wobei das eine mit der Spitze nach oben, das andere mit der Spitze nach unten dargestellt ist. Eine Drei nach oben und eine Drei nach unten erinnert uns sofort an die Lilie. Symbolisch gesehen entspricht es deshalb unserer mystischen Lilie. Wir werden diesem Siegel Salomos später wieder begegnen.

 

 Abbildung 3.2: Das Siegel Salomos

  

Wenn wir nun bezüglich des Kreises amplifizieren, so stellt sich folgendes heraus: Der Kreis ist das älteste und zugleich einfachste Gottesbild, das wir kennen. Das erscheint plausi-bel, da nämlich - wie gesagt - die beiden einzigen Kreise in der Natur bei der Sonne und beim Vollmond vorkommen, und Sonne und Mond wurden sehr früh mit dem Göttlichen in Verbindung gebracht. So stellt beispielsweise bei den alten Ägyptern die Sonne den Gottkönig Re dar. Der König, das Göttliche und die Sonne sind ein und dasselbe. Ähnlich bei den Azteken, die ihrem Sonnengott sogar blutige Menschenopfer darbrachten. Prähistorische Felszeichnungen mit Kreisen, beispielsweise in Rhodesien, beweisen uns, dass der Kreis seit der Urzeit der Menschheit, seit die ersten religiösen Systeme nachweisbar sind, immer mit dem Göttlichen in Verbindung gebracht wurde.

Ich habe bereits erwähnt, dass die Alchemie die Meditation über das Gottesbild mit der Lilie verbunden hat. Wir sehen nun etwas klarer warum: Die Lilie hat sechs Blütenblätter, die Zahl Sechs gehört zum Kreis, und dieser symbolisiert seit alters her das Göttliche, das Gottesbild im Menschen. Es erstaunt uns nun also nicht mehr so sehr, dass ausgerechnet die Lilie mit der Meditation über das Gottesbild zu tun haben soll.

 Wenn wir nun wieder zur Vision von der Lilie zurückkehren, fällt uns auf, dass diese Lilie in ein Stück Tuch hineingestickt ist. An diesem Detail zeigt sich, dass man solche Visionen ganz genau nehmen muss. Sarah sieht keine natürliche Blume in der Wiese, sondern eine gestickte Lilie. Mit anderen Worten heisst dies, dass diese Lilie das Werk eines Menschen darstellt, denn nur dieser wird in der Lage sein, eine Lilie in ein Stück Tuch hineinzusticken. Zudem braucht dieser Arbeit viel Geduld. Psychologisch gesehen heisst dies, dass meine Klientin sich diese Lilie, d.h. das in ihr wirkende Gottesbild, in geduldiger Kleinarbeit selbst erarbeiten muss. Diese Arbeit stellt ihre eigentliche Lebensaufgabe dar.

Wenn wir die Erkenntnisse aus unseren Amplifikationen über die Lilien-Vision zusammenfassen, ergibt sich etwas allgemein formuliert folgendes:

 MEINE KLIENTIN SARAH MUSS MIT HILFE EINER MEDITATION DAS NATÜRLICH IN IHR ANGELEGTE GOTTESBILD SELBST ERKENNEN.

Die Leserin kann sich vielleicht vorstellen, wie sehr mich diese erste Vision und das darin verborgene "vorbewusste Wissen" (C.G. Jung) des kollektiven Unbewussten verblüfften. Ich komme zu einer Frau, sie liegt am Boden und kann sich kaum mehr bewegen. Die erste Frage, die man sich stellt, geht ungefähr in folgende Richtung: Wie kann ich dieser Frau als Therapeut helfen? Soll ich sie trösten, ihr viel Mut zusprechen, ihr zu erklären versuchen, dass sie ihre schwere Krankheit annehmen muss, um mit ihr leben zu können? Das wären etwa die Ratschläge, wie sie im therapeutischen Lehrbuch stehen. Abgesehen davon, dass ich mit solchen therapeutischen Gemeinplätzen persönlich sehr viel Mühe habe, weiss ich heute auch, dass Sarah die Therapie in der ersten Stunde abgebrochen hätte, wenn ich ihr solche Dinge erzählt hätte. Derartige gut gemeinten Ratschläge hatte sie nämlich von professionellen Heilern und Helfern bereits zur Genüge gehört.

Meine Bemerkung, dass sie durch ihre Beziehung zur Innenwelt, durch die Konzentration auf ihre inneren Bilder, vielleicht ihre Krankheit beeinflussen könnte, war für meine Klientin viel wichtiger als jeder Trost. Zum ersten Mal sah sie, dass sie derart vielleicht ein Mittel in der Hand hatte, mit dem sie selbst in ihrem Leben etwas ändern konnte. Und was das für einen behinderten und von anderen völlig abhängigen Menschen heisst, kann der Leser sich wahrscheinlich sehr gut vorstellen. Zudem spürte meine Klientin nach der Deutung dieser ersten Vision, dass sie an einen archetypischen Prozess angeschlossen war, in welchem sie eine entscheidende Rolle spielte. Nur ihr Bewusstsein war nämlich in der Lage, die inneren Bilder wahrzunehmen und derart die Wandlung des Gottesbildes in sich selbst zu beobachten. Ohne eben diese individuelle Wahrnehmung wären auch die schönsten und grössten Visionen nichts gewesen.

 

 

4. Die Schilf-Vision und der konstellierte Schöpfungsmythos 

Wenden wir und nun als nächstes der zweiten Vision zu:

 

Die zweite Vision:

Sarah sieht einen See, an dessen Ufer befindet sich ein Schilfgürtel. 

Das Wasser, der See und das Meer sind eines der weitest verbreiteten Symbole für das Unbewusste, vor allem für das von C.G. Jung entdeckte kollektive Unbewusste. Offensichtlich ist Sarah nun an der Grenze zu diesem schöpferischen Urgrund der Menschheit angelangt.

Am Ufer, zwischen dem Land und dem See, somit an der Grenze zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten, steht das Schilf. Wir müssen somit das Schilf als Symbol amplifizieren, werden also die Mythen und Märchen der Menschheit dahingehend un-tersuchen, was diese über die Bedeutung des Schilfes aussagen.

Wir finden so zwei Dinge. Erstens bedeutet das Schilf, vor allem in den Märchen, ein Symbol des geheimen Wissens . Da dieses Schilf am Ufer des Sees steht, können wir schliessen, dass dieses »geheime Wissen« offensichtlich diesen Grenzbereich zwischen Bewusstsein und kollektiven Unbewussten erreicht hat. In einem solchen Grenzbereich befindet man sich aber im Zustand der Visualisierung, in welchem das Bewusstsein so weit abgeblendet ist, dass es die Visionen und Auditionen aus dem kollektiven Unbewussten wahrnehmen kann. Auch die zweite Vision unterstützt somit meine Hypothese, dass Sarah eine ganz bestimmte Technik der Meditation erlernen sollte.

C.G. Jung hat im Laufe seiner Forschungen tatsächlich herausgefunden, dass - so paradox dies auch tönt - das kollektive Unbewusste Bewusstheit besitzt. Es weiss beispielsweise des öfteren Dinge, die erst in Zukunft geschehen werden, verfügt somit über die parapsychologische Eigenschaft der Präkognition. Diese Eigenschaft des Unbewussten hat C.G. Jung dessen vorbewusstes oder absolutes Wissen genannt. Es scheint sich dabei um ein objektiv in der Natur vorhandenes Wissen zu handeln, welches weder an Zeit noch an Raum gebunden ist. Diese Hypothese wurde nach deren Postulierung durch C.G. Jung durch die parapsychologischen Experimente von J.B. Rhine empirisch bestätigt, hat aber in die Wissenschaftstheorie bis heute seltsamerweise noch keinen Eingang gefunden.

Die Deutung des Schilfes als ein geheimes Wissen des kollektiven Unbewussten kann man ebenfalls aus einer Naturtatsache erklären: Sitzt man an einem See, der noch seinen natürlichen Schilfgürtel besitzt und ein Wind kommt auf, sieht man, wie das Schilf in diesem Wind hin und her zu schwingen beginnt, und es hört sich so an, wie wenn es zu flüstern begänne. Manchmal hört man sogar Stimmen. Diese werden noch heute von naturnahen Menschen als eine göttliche Stimme interpretiert, die durch die Natur zu ihnen spricht.

Wir können somit folgern, dass das Schilf wie die Lilie ein Symbol der meditativen Einstellung darstellt. In der zweiten Vision ist jedoch die Tatsache besonders betont, dass man dazu die Natur mit einbeziehen muss. Eine Meditation unter Berücksichtigung derselben, das heisst auf der mikrokosmischen Ebene den Einbezug des menschlichen Körpers, weicht jedoch wesentlich von der christlichen Meditation ab. Die Schilf-Vision weist uns darauf hin, dass es letztlich die Natur und damit auch der menschliche Körper ist, der über das »geheime Wissen« - oder in einer moderneren Terminologie: über das vorbewusste Wissen des kollektiven Unbewussten - verfügt. Dies heisst nichts anderes, als dass unsere Hypothese der Notwendigkeit des Einbezugs der Äusserungen des vegetativen Nervensystems in unsere Meditation ihre Berechtigung hat. Auf welchen Teil des vegetativen Nervensystems wir uns bei dieser Körpermeditation besonders konzentrieren müssen, wird uns die dritte Vision zeigen, ein Bild von einem mit flüssigem Magma gefüllten Vulkankrater.

Doch führen wir an dieser Stelle unsere Amplifikation über das Schilf noch ein bisschen weiter: Wie der Leser sicher weiss, besassen die alten Ägypter schon vor ungefähr 5'000 Jahren eine umfangreiche Mythologie, welche sich fast ausschliesslich mit dem Leben nach dem Tode beziehungsweise mit dem Leben im Jenseits befasste. Deshalb haben ihre Priester die Leichen der Verstorbenen einbalsamiert. Weiter besassen die Ägypter eine Zeichenschrift, die Hieroglyphen. In dieser Hieroglyphenschrift steht nun das Zeichen Schilf für Horus. Welche Eigenschaften besitzt dieser ägyptische Gott? Horus ist einerseits die neue Sonne, die im Osten aufgeht, nachdem sie die Nachtmeerfahrt im Jenseits absolviert hat. Die Sonne symbolisiert aber auch Gott. Horus und damit die Hieroglyphe »Schilf« bedeuten somit für die alten Ägypter die Sonnengottheit, welche sich im Jenseits erneuert hat und nun wiedergeboren worden ist. Oder anders ausgedrückt: Gott-Sonne ist im Westen gestorben, ist dann in die Erde versunken, hat sich dort regeneriert und steigt nun wiedergeboren im Osten auf. Die Schilf-Vision deutet also auch auf diesen sich täglich wiederholenden Regenerationsprozess der Gottheit hin. Diesem ägyptischen Mythos der Gotteserneuerung begegnen wir später in der mittelalterlichen Alchemie wieder, und er wird uns weiter unten noch intensiv beschäftigen.

Damit haben wir den im kollektiven Unbewussten meiner Klientin Sarah konstellierten Schöpfungsmythos gefunden, der ihre Krankheit kompensiert: Er besteht aus der für einen gläubigen Christen ungeheuerlichen Idee, dass Gott selbst hier und jetzt sterben und sich neu inkarnieren muss. Wie der Leser sicher weiss, glaubt ein Christ daran, dass dieses Geschäft vor bald zweitausend Jahren ein für alle mal der Gottessohn Jesus Christus erledigt hat. Seit diesem historischen Zeitpunkt ist für einen Christen Gott ewig und unwandelbar. Und nun kommt das Unbewusste und sagt meiner Klientin, dass in ihr hier und jetzt ein neuer Schöpfungsprozess der Gottheit konstelliert ist, über den sie bewusst werden muss. Der in der Schilfvision angedeutete ägyptische Mythos der Gotteswandlung kompensiert somit die christliche Idee der ewigen Unwandelbarkeit Gottes.

Wenn wir die Erkenntnisse der ersten zwei Visionen zusammenfassen, ergibt sich die folgende Aussage:

SARAH MUSS MIT HILFE EINER KÖRPERZENTRIERTEN INAGINATION (ODER SYMPTOM-SYMBOL-TRANSFORMATION) DAS NATÜRLICH IN IHR ANGELEGTE GOTTESBILD SELBST ERKENNEN. ÜBER DIESE MEDITATION WIRD IHR BEWUSSTSEIN AN EIN IN IHREM KÖRPER VERBORGENES "GEHEIMES WISSEN" ANGESCHLOSSEN, WELCHES IHR ÜBER DEN IHRE KRANKHEIT KOMPENSIERENDEN SCHÖPFUNGSMYTHOS AUSKUNFT ERTEILEN WIRD. DIESER SCHÖPFUNGSMYTHOS BESTEHT DARIN, DASS HIER UND JETZT IN IHR SELBST GOTT STIRBT UND SICH IN GEWANDELTER GESTALT WIEDER IN IHR INKARNIERT.

 

 

Weitere Texte über Archetypische Psychsomatik in www.psychovision.ch/hknw/bodynet.htm

Homepage Remo F. Roth

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