Praxis für Alternative Psychosomatik und Traumdeutung, Dr. Remo F. Roth, CH-8001 Zürich 

 

Remo F. Roth

Dr. oec. publ., Ph.D.

dipl. analyt. Psychologe (M.-L. v. Franz)


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Der Archetypus der mystischen Hochzeit in der Alchemie und im Unbewussten des heutigen westlichen Menschen

(Teil 3)


Inhalt:

Teil 3:

5. Die zweifache Erlösung der Weltseele aus der Materie

5.1 Das Siegel Salomos als unerlöste und der denarius (Zehnzahl) als erlöste Weltseele

5.2 Die erlöste Weltseele als die rotatio des rotundums (Rotation des Runden) und die hermetische Alchemie

5.3 Die rotatio des rotundums im Unbewussten Wolfgang Paulis und C.G. Jungs und die zukünftige unio corporalis

5.4 Das Erlebnis der Weltseele (anima mundi) im Mittelalter

5.5 Die Geburt der Naturwissenschaft im 16. und 17. Jahrhundert

Teil 4:

5.6 Die Zerstörung der Einheit der Weltseele und deren Reduktion auf die Prinzipien der physikalischen Energie und der Kraft

Teil 5:

5.7 Die Projektion der Weltseele auf die Infinitesimalrechnung

5.8 Die Folgen der ersten Erlösung der Weltseele

5.9 Das Problem der Vervollständigung des alchemistischen Opus: Die zweite Erlösung der Weltseele

Teil 6:

6. Der denarius (Zehnzahl) als Prozess und Ziel des Opus

6.1 Prozess und Ziel im mikrokosmischen und im makrokosmischen Opus

6.2 Eine allgemeine Beschreibung des alchemistischen Opus

6.3 Physik und Jung'sche Tiefenpsychologie als erste coniunctio in der unio mentalis

Teil 7:

6.4 Die unio corporalis und die zweite coniunctio in einer modernen Terminologie

Teil 8:

6.5 Das Siegel Salomos, die Quadratur des Kreises, die Quintessenz und die Quaternität

Teil 9:

6.6 Die quaternäre Struktur des Bewusstseins in der Typologie C.G. Jungs und das komplementäre Eros-Bewusstsein

Teil 10:

7. Der Archetypus der coniunctio im heutigen westlichen Menschen 

8. Der Obelisk und die Inkarnation des unus mundus 

9. Das UFO und das Lebenselixier der unio corporalis


 
5. Die zweifache Erlösung der Weltseele aus der Materie (1)

 

5.1 Das Siegel Salomos als unerlöste und der denarius als erlöste Weltseele  

Für das symmetrische mittelalterliche Denken war es völlig selbstverständlich, daß die Erlösung des inneren Aspektes jene des äußeren nach sich zog, und umgekehrt. Das Opus konnte daher sowohl auf der eigenen inner-körperlichen Ebene als auch im alchemistischen Labor mit Hilfe der äußeren Materie vollzogen werden. Die Alchemie war somit ebenso von einem makrokosmischen Parallelprozeß fasziniert.

Obwohl der makrokosmische Prozess dem mikrokosmischen entspricht, wird er meist nur in verdichteter und verkürzter Form darstellt: Aus der prima materia (Mutter Erde) soll mit Hilfe des Alchemisten die anima mundi, die Weltseele befreit oder sogar erlöst werden (vgl. nebenstehende Abb. 8 aus Jung, GW 12, p. 66. Sie bildet den Auftakt zu Jungs Deutung von Paulis Visionsserie aus den Jahren 1931/32; s dazu auch unten). Dabei wird - in einem fast unglaublichen Akt der Häresie - die vorerst in der Materie schlafende Weltseele co-aetern (gleich ewig) mit dem christlichen Gott vorgestellt und entspricht daher einem increatum, das heißt, einem Ungeschaffenen. Sie stellt ein animistisches Prinzip dar, das dem christlichen Gott ebenbürtig ist. Im Gegensatz zu diesem muß sie aber mit der Hilfe des Menschen aus der Materie erlöst werden. Vor dieser Erlösung ist sie spiegelbildlich und ambivalent - eine ausgesprochene Zweiheit. In einer modernen physikalischen Terminologie erinnert dieses schillernde Wesen an das Phänomen der Oszillation.

Die Weltseele ist aber auch rund. Das alchemistische Opus wird daher auch als die Herstellung des Runden beschrieben. Um diese wohl typischste Eigenschaft der Rundheit mit ihrer ausgesprochenen Ambivalenz zusammen zu bringen, wird die unerlöste Weltseele dem Symbol des Siegels Salomos (Zahl 6 mit ihrer Qualität der Doppel-Drei!) gleichgesetzt. Sie entspricht dem Mercurius, der zentralen Figur der westlichen Alchemie, wobei in ihr allerdings der weibliche Aspekt betont wird. Energetisch gesehen ist sie der Motor, der die Welt und das Leben antreibt. In der Symbolik des Siegels Salomos dargestellt, entspricht die Weltseele somit einer potentiellen, mit Hilfe des Menschen zu befreienden Lebensenergie.

Während also die potentielle, in der Materie schlafende Weltseele dem Siegel Salomos oder, allgemeiner gesagt, einer Doppel-Trinität entspricht, wird die erlöste Weltseele dem so genannten denarius, der Zehnzahl gleichgesetzt [vgl. die nebenstehende Abb. 117 aus Jung, GW 12: "Anthropos als 'anima mundi' die vier Elemente enthaltend und durch die Zehnzahl bezeichnet, welche Vollkommenheit bedeutet (1+2+3+4)]". 

Wie wir unten sehen werden, entspricht die Herstellung des denarius ihrerseits dem Ziel des Rosariums, der Erlösung der mikrokosmischen Weltseele (oder der Körper-Seele) und dem Hauchkörper. Es zeigt sich also,  daß das Ziel des makrokosmischen und des mikrokosmischen Prozesses dasselbe ist, obwohl im ersteren die Wiederbelegung der Materie zu fehlen scheint. Wie wir gleich sehen werden, ist sie implizite dennoch vorhanden.

 

5.2 Die erlöste Weltseele als die rotatio des rotundums (Rotation des Runden) und die hermetische Alchemie

In der Welt des Alchemisten verschwimmen nicht nur die Innenwelt und die Aussenwelt, auch die von ihm verwendeten Begriffe für das Opus, für die darin stattfindenden Prozesse und für die zu behandelnde oder zu wandelnde Substanz sind alles andere als exakt definiert. Um die folgenden Ausführungen verstehen zu können, sollte daher die Leserin, und vor allem der naturwissenschaftlich gebildete Leser, sich bemühen, ihr diskriminierendes Bewusstsein etwas zurückzustellen, die Assoziationsfähigkeit des Gehirns wieder etwas vermehrt zuzulassen und derart versuchen, ein Stück weit in das "wellenartige" Bewusstsein des mittelalterlichen Menschen einzutauchen. Nur so lässt sich die symbolische Sprache dieser vorwissenschaftlichen Art und Weise des Herantastens an neue Begriffe verstehen.

Auf der Grundlage dieses assoziativen, nicht-diskriminierenden alchemistischen Denkens ist es für den Alchemisten selbstverständlich, dass die Rundheit mit dem Begriff des "Wassers" identisch ist, das seinerseits natürlich dem Inhalt des Merkurbrunnens entspricht. Die eigentliche Aufgabe des Alchemisten besteht daher als Erstes darin, dieses "Wasser" herzustellen, um anschliessend diese "Belebung" des "Wassers" mit einem Geist zu beobachten. 

Da "Wasser" somit "Rundheit" bedeutet, und diese das Siegel Salomos (runder bzw. sechseckiger Brunnen!), besteht die Herausforderung, der sich der Alchemist stellen muss, offensichtlich in einer "Herstellung" des Siegels Salomos oder des Runden, der eine anschliessende Beobachtung einer "Belebung" dieses an sich statischen Gebildes folgen soll. Symbolisch gesehen entspricht diese Belebung einer Erlösung der unerlösten Weltseele, welcher Prozess seinerseits in der Erweiterung der Doppel-Triade des Siegels Salomos zum denarius geschildert ist. 

Im Sinne eines spontanen assoziativen Prozesses führte diese "Belebung des runden Wassers" folgerichtig zu einem weiteren Begriff, der die erlöste Weltseele beschreibt, zur rotatio des rotundums (Rotation des Runden). Sie bedeutet eine zweite Erlösung, die die in der unio mentalis bereits erfolgte Erlösung ihres Geist-Seele-Aspektes ergänzt. Daher stellt die Rotation des Runden eine Parallele zu jenem Prozess des Rosariums dar, in dem sich die erstmals erlöste Weltseele mit dem toten Körper wiedervereinigt und diesem eine "Materie-Seele" einhaucht. Das Resultat dieser Prozedur ist dann ein makrokosmisches Geist-Körper-Seele-Wesen, das wie im mikrokosmischen Prozess des Rosariums als subtil vorgestellt werden muss. Die rotatio des rotundums scheint zudem anzuzeigen, dass der Prozess der erneuten Weltschöpfung begonnen hat. Doch ist auch im makrokosmischen Opus, wie im mikrokosmischen des Rosariums, die Mitarbeit des Menschen von absolut zentraler Bedeutung.

 

 

5.3 Die rotatio des rotundums im Unbewussten Wolfgang Paulis und C.G. Jungs und die zukünftige unio corporalis

Diese als rechtsläufig vorgestellte Rotation, erinnert sofort an das noch ungelöste Rätsel der Paritätsverletzung des von Wolfgang Pauli "erfundenen" Antineutrinos. Es war für die symmetriegläubige Physikergemeinschaft ein ausserordentlich grosser Schock, als im Jahr 1956 experimentell festgestellt wurde, dass das Neutrino und das Antineutrino sich nicht gleich wie die anderen Teilchen verhalten. Sie unterliegen der so genannten Paritätsverletzung, das heisst, das Neutrino besitzt immer nur einen linkshändigen Spin, das Antineutrino einen rechtshändigen. Ein rechtshändiges Neutrino und ein linkshändiges Antineutrino existieren nicht, womit eine ganz wesentliche Symmetrie, eben die Parität, verletzt ist. [Vgl. dazu Brief [76] Paulis vom 5.8.57 an Jung in Meier, p. 159ff., sowie Appendix 10, ebd.]

Wie ich in The Return of the World Soul zeige [noch nicht vollständig publiziert], dürfte diese Asymmetrie mit einer eigentlichen Beseelung der vermeintlich toten Materie zusammenhängen, ein Phänomen, das sich meines Erachtens in den sich häufenden UFO-Sichtungen und -Entführungen (abductions) äussert, dessen Existenz jedoch von der etablierten Wissenschaften beharrlich geleugnet wird. Wie ich schon erwähnt habe, werden wir uns daher am Schluss meiner Ausführungen einer UFO-Vision eines heutigen Mannes zuwenden, die diesen Sachverhalt bestätigen wird.

Die bewusste Beobachtung dieser Belebung der Weltseele auf der psychophysischen Ebene, die sich unbewusst im Pauli-Effekt äusserte, wäre die Aufgabe Wolfgang Paulis gewesen, eine Herausforderung, der er jedoch nicht gewachsen und daher wahrscheinlich so früh verstorben war. 

Die rotatio des rotundums bildet auch eines der wichtigsten Motive der Visionsserie Wolfgang Paulis, die C.G. Jung im Jahr 1936 gedeutet und publiziert hat [GW 12, § 52ff.]. Pauli ahnte jedoch, dass diese Deutung unvollständig war und hatte Jung deswegen auch kritisiert. Er konnte allerdings noch nicht bewusst erkennen, dass in seiner Visionsserie ein Geschehen geschildert ist, das sich an die Symbolik der coniunctio anlehnt, die C.G. Jung jedoch intellektuell nicht mehr erfassen konnte, da sein tiefenpsychologischer Ansatz weit eher der neuplatonischen als der hermetischen Alchemie entspricht (s.u.). 

Folgerichtig fehlt Jungs Tiefenpsychologie auch der Prozess der zweiten Erlösung der Weltseele, die unio corporalis. Sie war ihm erst in jenem heute berühmten symbolischen Bild des Bärs fassbar, der die Kugel ins Rollen bringt - Ursa movet molem (vgl. Abb.). Diese Vision der rotatio des rotundums erschien ihm an der Aussenmauer seines Turms in Bollingen am oberen Zürichsee und veranlasste ihn, wie er in einem späten Brief von 1960 schildert, sie ebendort in den Stein zu meisseln. Er ahnte jedoch noch, dass diese Symbolik mit kommenden Ereignissen zu tun hat [Jung, Briefe III, S. 366]. Da er kurz zuvor sein UFO-Buch Ein moderner Mythos publiziert hatte, in dem die Rotation des Runden eine wesentliche Rolle spielt, können wir mit grosser Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass Jung mit seiner Bemerkung eben dieses beängstigende Phänomen andeuten wollte, dessen Zahl von Beobachtungen sich in den letzten Jahrzehnten mit exponentieller Zuwachsrate beschleunigt.

Da diese Problematik der ersten und der zweiten Erlösung der Weltseele unbewusst auch in Pauli konstelliert war, befasste er sich intensiv mit der Alchemie und leistete so wichtige Vorarbeiten für weitere Forschungen, die jedoch nur in seinen Briefen dokumentiert sind. Er zeigte nämlich - meines Wissens als Erster - , dass die Alchemie in zwei völlig verschiedene Richtungen gespalten war, in die neuplatonische und in die hermetische (vgl. dazu und zum folgenden The Return of the World Soul). Während erstere eine "desinfizierte Weltseele" (W. Pauli) aus der Materie befreien und in den neuplatonischen Himmel befördern wollte, war das Anliegen der letzteren neben der Vergeistigung der Materie auch eine Rematerialisierung des göttlichen Geistes

Die neuplatonische Alchemie entspricht daher der im 3. Kapitel dargestellten unio mentalis. Wie wir sehen werden, fusst auch die moderne Naturwissenschaft auf der Philosophie der neuplatonischen Alchemie, indem sie in der Befreiung der physikalischen Energie aus der Materie eine erste Erlösung der Weltseele zustande gebracht hat. Wolfgang Pauli hat die Unvollständigkeit dieses Prozesses geahnt und daher in seiner spöttischen Art und in Anlehnung an A.N. Whitehead die europäische Philosophie als blosse Fussnote zu Plato bezeichnet [Meier, 1992, p. 95]. Da die westliche Naturwissenschaft letztlich auf der europäischen Philosophie beruht, dürfte diese Klassifizierung auch für sie gelten.

Im Gegensatz dazu ist, wie das 4. Kapitel uns gezeigt hat, die hermetische Alchemie, das heisst vor allem das Rosarium philosophorum und das Opus des Robert Fludd und des Gerardus Dorneus, zum mindesten auf der symbolischen Ebene, bis zur unio corporalis vorgedrungen. Es wird sich zeigen, dass sie einer zweiten Erlösung der Weltseele entspricht, die die eigentliche Aufgabe des 21. Jahrhunderts darstellen und unsere Welt in äusserst revolutionärer Art und Weise verändern wird.

Um der Leserin und dem Leser die ungeahnten Dimensionen dieses heute wieder konstellierten alchemistischen Prozesses vor Augen zu führen, will ich an dieser Stelle schon darauf hin weisen, dass der oben dargestellte alchemistische Prozess in einer Vereinigung eines quaternären, das heisst, die inferiore Funktion einbeziehenden Bewusstseins mit einer potentiellen, doppel-triadisch vorgestellten Welt (des unus mundus) besteht. Ein derart erneuertes Bewusstsein (Eros-Bewusstsein) kann dann spontane, akausale, vom Logos-Ich völlig unabhängige Belebungsprozesse im unus mundus beobachten, womit eine eigentliche Neuschöpfung ausgelöst wird.

 

 

5.4 Das Erlebnis der Weltseele (anima mundi) im Mittelalter

Im mikrokosmischen Prozess des Rosariums geht dieser Wiederbelebung der Tod des Körpers voraus, der eintritt, wenn die Seele sich von diesem trennt und sich mit dem Geist verbindet (unio mentalis). Da das alchemistische Denken symmetrisch ist, der makrokosmische Prozeß damit dem mikrokosmischen entspricht und daher auch das Ziel, der denarius, dasselbe ist, könnte man annehmen, daß auch bei der Befreiung und Erlösung der makrokosmischen Weltseele der Tod der Materie eintritt. Dieses Motiv erscheint allerdings meines Wissens nicht explizite. 

Um den zum makrokosmischen Opus gehörenden Parallelprozess zum mikrokosmischen Geschehen, den Tod der Materie, zu finden, müssen wir uns mit der historischen Entwicklung in der Zeit um die Publikation des anonymen Rosariums (1550) und des Opus des Dorneus (2. Hälfte des 16. Jahrhunderts) beschäftigen. Dazu muss ich allerdings etwas weiter ausholen und einige Bemerkungen über jene für das 21. Jahrhundert so kritische Zeit anbringen, in der das Mittelalter langsam in die Renaissance einmündete, die ihrerseits an der Wiege der sich im 17. Jahrhundert entwickelnden Naturwissenschaft stand.

Der mittelalterliche Mensch war erfüllt von einem mystischen Gefühl, dessen Tiefe wir heute kaum mehr erahnen können (vgl. dazu The Wheel Image of Niklaus von Flüe). Eine derartige mystische Einheit mit der Natur erlebte er beispielsweise bei der Betrachtung des Nachthimmels. Für ihn war es die anima mundi, die Weltseele, die die Planeten in ihren Bahnen kreisen und den Fixsternhimmel sich langsam drehen liess. Da der mittelalterliche Mensch tief introvertiert war, über die Sinnesorgane empfangene Eindrücke daher viel intensiver auf ihn einwirkten als auf den heutigen Menschen, löste jedes äussere Ereignis eine äusserst intensive innere Reaktion aus. Sowohl für die äussere Bewegung am Himmel als auch für die dadurch im Menschen ausgelöste spontane innere Bewegtheit war ein spezifisches Prinzip der Weltseele verantwortlich, die anima movens, die "bewegende Seele".  

Es war somit eben dieses mit dem christlichen Gott co-aeterne weibliche Prinzip, die anima mundi, beziehungsweise ihr Bewegungsaspekt, die anima movens, die auch für den Zusammenhang zwischen der äusseren physischen Bewegung und der inneren psychischen Bewegtheit sorgten.

Die Weltseele war jedoch zugleich auch das vinculum amoris (das Band der Liebe), das heisst, jene Instanz, die als Seele Geist und Materie verband, sei es in der Beseelung der Materie am geistig gedachten Himmel, der Planeten und Sterne, sei es in dem mit Vernunft begabten, beseelten menschlichen Körper. Da sie als Mittlerin sowohl Anteil am Geist als auch an der Materie (beziehungsweise am Körper) besass, wurde sie auch als die ungeteilte Ganzheit Geist-Seele-Materie beziehungsweise Geist-Seele-Körper aufgefasst. Auf der makrokosmischen Ebene herrschte daher eine natürliche Einheit von Materie, Seele und Geist, die durch die mikrokosmische Einheit von physischem Körper, Seele und Geist ergänzt wurde. Zudem bildete die mikrokosmische Einheit den Spiegel der makrokosmischen, et vice versa.

Obwohl also die innere und die äussere Welt, der Mikrokosmos und der Makrokosmos, eine unteilbare Einheit bildeten, gab es doch auch einen Unterschied zwischen beiden: Die äussere Bewegung der Weltseele wurde als kontinuierlich erfahren, während die innere zu einer spontanen Bewegtheit der individuellen Seele führte. Diesen Tatbestand finden wir beispielsweise noch in der Redewendung: Mein Herz springt vor Freude.

Obwohl also die beiden Bewegungen recht unterschiedlich waren - wir würden heute vom Unterschied zwischen dem Kontinuum und dem Diskontinuum sprechen - , bildet diese Einheit von äusserer kontinuierlicher Bewegung und durch den "mystischen Schauer" ausgelöster, spontaner innerer Bewegtheit das Charakteristikum des Erlebnisses der anima mundi des mittelalterlichen Menschen.

 

 

5.5 Die Geburt der Naturwissenschaft im 16. und 17. Jahrhundert

Dieses Einheitserlebnis wurde durch die sich im 16. und 17. Jahrhundert entwickelnde Naturwissenschaft zerstört. Da die Hintergründe dieses Paradigmawechsels für unsere Zeit äusserst wichtig sind, wollen wir uns nun etwas eingehender damit beschäftigen.

Im Jahr 1471 publiziert Marsilio Ficino (1433-1499) das aus dem Griechischen in Latein übersetzte Corpus hermeticum. Etwas später lässt sein Schüler Pico della Mirandola (1363-1494) die erste kabbalistische Schrift, De arte cabalistica, in gedruckter Form erscheinen. So werden zwei magische Schriften einer breiteren Leserschaft zugänglich; dementsprechend üben sie einen gewaltigen Einfluss auf das Denken der Renaissance und auf die Alchemie aus, vor allem auch auf Paracelsus (1493-1541), dessen Werk De vita longa (vgl. Paracelsus and the Renewed Image of God) ganz wesentlich von diesen zwei Schriften geprägt ist.

Zu Beginn des 16. Jahrhunderts (um 1514) publiziert Kopernikus (1473-1543) erste Andeutungen seines neuen heliozentrischen Weltbildes. Als Resultat dieser Ersetzung des ptolemäischen Weltbildes wird das Zentrum der Welt von der Erde auf die Sonne verschoben. Symbolisch gesprochen können wir in dieser Entwicklung  einer immer stärkeren Gewichtung des männlichen Geistprinzips gegenüber dem weiblichen Materieprinzip sehen. Daher wurde parallel dazu die magische Welt, die, auf dem Animismus beruhend, natürlich sehr viel mit der Erde zu tun hatte, immer mehr verdrängt. 

Zugleich wurde - in der Sprache der Psychologie C.G. Jungs - die Empfindung befruchtet, welche Entwicklung letztlich in die Neuentdeckung der (extravertierten) Empirie hineinführte. Diese empirische Einstellung hatte bei den alten Aegyptern ihre höchste Blüte erreicht, wie unter anderem die Mumifizierungen der Toten- und Jenseitsrituale zeigen, war später, in der griechischen Hochkultur, jedoch völlig verloren gegangen. Auch das introvertiert geprägte Mittelalter schweigt sich darüber aus.

Die Publikation der beiden obigen magischen Schriften führte vorerst dazu, dass die Empfindungsfunktion in einer magisch-extravertierten Art und Weise angewandt wurde. Ein Beispiel dafür ist die Signaturmedizin: Der Saft der Ahornblätter wird als ein gutes Mittel gegen Beschwerden der Hände gepriesen, da sie dank ihrer Fünfstrahligkeit eine gewisse Ähnlichkeit mit ihnen haben. Von Aegypten eingeführtes Mumienpulver dient der Erhaltung der Gesundheit des Körpers und der Verlängerung des Lebens, da Mumien offensichtlich eine derartige Eigenschaft besassen, usw.

Es lässt sich aber auch eine Befruchtung der introvertierten Magie beobachten. So wehrt sich beispielsweise Paracelsus [zum Folg. s. Peuckert, W.-E., Paracelsus Werke, Bd. V, 1968, p. 138ff.] vehement gegen die "nigromantischen Poeten", die glauben, mit konkret angewandten Signaturen etwas erreichen zu können. Er empfiehlt als einzige wirksame Mittel das Pentagramm und das Siegel Salomos, die er über die "Israeliten und nigromantischen Juden", das heisst, bei den Kabbalisten kennen gelernt hatte. Derart wehrt er sich "wider alle Zauberei und wider alle magischen Eingriffe". Diese einzigen beiden Signaturen sollen zudem "zur rechten Stund und Zeit" zu essen gegeben werden, und zwar auf "Lebkuchen oder dergleichen". Offensichtlich meint Paracelsus mit dem Rat, das Pentagramm oder das Siegel Salomos auf Substanzen aufgetragen einzunehmen, eine vorläufig noch konkretisierte symbolische "Introjektion" dieser Signaturen. Wir können ein derartiges Heilverfahren als eine Vorstufe der subjektstufigen, das heisst introvertiert-symbolischen Auffassung C.G. Jungs ansehen, in der dann auch die "Introjektion" symbolisch geschieht.

Die Gegenüberstellung dieser beiden Heilverfahren zeigt uns den Konflikt zwischen extravertiert-konkretisierender und introvertiert-symbolischer Empirie, der diese Zeit nach der Entdeckung des Corpus hermeticum und der kabbalistischen Schriften prägt. Doch neigt sich, wie wir gleich sehen werden, die Waage infolge der Entdeckung der Anwendbarkeit der Mathematik auf die materiellen Geschehnisse dann schliesslich auf die Seite der extravertierten Empfindung.

Während das Mittelalter, wie erwähnt, charakterisiert ist durch eine ausgesprochen introvertierte Einstellung, wendet sich - sicher auch durch die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus im Jahr 1492 wesentlich beeinflusst - das Interesse des Menschen im 16. Jahrhundert nun dem Aussen zu. Der Renaissance-Mensch beginnt die Welt mit völlig neuen Augen zu sehen; die Bedeutung der nach aussen gerichteten fünf Sinne nimmt in geradezu dramatischem Masse zu. 

Dem Zeitgeist entsprechend beginnt daher in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Tycho Brahe (1546-1601) in Prag mit der Beobachtung der Himmelskörper und notiert sich Tausende von empirischen Daten. Ungefähr gleichzeitig findet Galileo Galilei (1564-1642) aufgrund seiner Fallversuche (dieses Faktum wird neuerdings bestritten) in Pisa quantitative Beziehungen zwischen der Fallhöhe und der dazu benötigten Zeit frei fallender Körper. Brahes Beobachtungen dienen Johannes Kepler (1571-1630) als Grundlage der von ihm entdeckten Bewegungsgesetze der Planeten, und Newton (1642-1727) giesst die Beobachtungen Galileis in das uns heute geläufige Gravitationsgesetz.

Im Jahr 1637 erklärt der in einer extrem männlich geprägten Umgebung eines christlichen Klosters aufgewachsene Descartes (1596-1650) die Materie als eine reine res extensa, das heisst, dass von nun an ihre Ausdehnung als einzige relevante Qualität gilt. Damit ist der Weg für das Prinzip der Messung in der Empirie und für die Anwendung der Mathematik in der Theorie der Naturbeschreibung geebnet.

Am Ende des 17. Jahrhunderts erfinden Leibnitz und Newton fast gleichzeitig die Infinitesimalrechnung. Die in die beiden Sparten der Differential- und der Integralrechnung aufgeteilte neue mathematische Methode ermöglicht zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die quantitative Beschreibung der Bewegung der Materie. In Newtons Physik, die heute die klassische genannt wird, ist es daher möglich, mit Hilfe der so genannten Bewegungsgleichung, einer Differentialgleichung, aus den vier Anfangsbedingungen der Zeit, des Ortes, des Impulses (der Geschwindigkeit) und der Energie eines bewegten Körpers die zukünftige Entwicklung seiner Bewegung zu berechnen; das mechanistische Weltbild, das bis heute die offizielle Wissenschaft beherrscht, ist geboren.


Teil 4


 

siehe auch die weiteren Artikel über Hauchkörper-Forschung

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14.6.2003