Remo F. Roth

Dr. oec. publ., Ph.D.

dipl. analyt. Psychologe (M.-L. v. Franz)



© copyright 1996 by Remo F. Roth, Zürich, Switzerland


Kapitel 8

von

Archetypische Psychosomatik -

Die Synchronizität C.G. Jungs als Grundlage

der Wechselwirkung zwischen Körper und Seele

 

 

8. Die Gnosis des Simon Magus

 

8.1 Die Struktur des simonianischen Gottesbildes und dessen Inkarnation im Kosmos und im Menschen 

Im obigen habe ich versucht, die ersten vier Visionen Sarahs zu amplifizieren und zu deuten. Dabei sind wir auf einen auf den ersten Blick überraschenden Filigran von Wechselbeziehungen zwischen diesen Visionen gestossen. Es ist, als ob der immer gleiche Sinngehalt von verschiedenen Seiten beleuchtet würde, als ob der eine zentrale Inhalt, der Schöpfungsmythos der Gotteswandlung, mit immer neuen Motiven umschrieben würde. Ich habe oben schon darauf hingewiesen, dass es sich dabei um das von Jung entdeckte Prinzip der Selbstamplifikation des Archetypus handelt, eine Umkreisung des zentralen Inhalts mit verschiedenen aber sinngleichen Symbolen, welchen Vorgang C.G. Jung auch Zirkumambulation genannt hat. Folgt man diesem archetypischen Prozess durch eine amplifizierende Deutung, verdichtet sich der Inhalt immer mehr auf das Wesentliche, und schliesslich lässt sich der Kern eines vollständigen Mythos herausschälen.

Es lässt sich nun zeigen, dass dieser Kern im vorliegenden Fall in weiten Teilen der frühchristlichen Gnosis des Simon Magus entspricht. Konzentriert man sich nämlich auf die beiden Hauptsymbole der dritten und der vierten Vision, auf das Feuer und auf den Baum, befindet man sich plötzlich mitten in dieser vorevangelischen Phase des Christentums. Simon Magus muss zur Zeit Jesu gelebt haben, denn sieben Jahre nach dessen Tod traf er zu einem Streitgespräch mit Petrus zusammen. Da die frühesten Evangelien auf die zweite Hälfte des ersten Jahrhunderts datiert werden, ist die Gnosis des Simon Magus vor diesen entstanden. Es handelt sich dabei offensichtlich um das ur-sprünglichste Urchristentum. Wie bekannt, wurde im Jahr 170 vor allem durch die Schrift Adversus haereses des Bischofs Irenäus von Lyon die Gnosis als ketzerisch geächtet, und alle irgendwie von gnostischem Geist angehauchten Schriften wurden verbrannt, sofern die Kleriker jener Zeit ihrer habhaft werden konnten.

Damit war im Frühchristentum eine Entwicklung eingeleitet, die von der unmittelbaren Gotteserfahrung der Gnostiker weg in den dogmatisierten Kanon der kirchlichen Kleriker hineinführte. Individuelle Gotteserfahrung wurde durch Glaube ersetzt, den diese Kleriker lehrten, wobei ihnen das Machtinstrument der entstehenden Kirchenorganisation bei der Unterdrückung und Ausrottung der Gnostiker eine grosse Hilfe war. Es scheint, als ob das Pendel nun, am Ende des christlichen Zeitalters, zurückschlagen werde. Den Kirchen rennen die Gläubigen in Scharen davon. In Unkenntnis der christlichen Gnosis und Mystik suchen viele ihr Heil in fernöstlichen mystischen Ritualen - um allerdings wieder den machtbesessenen Gurus in die Arme zu laufen.

Bevor wir das Symbol des verbrennenden Baumes und der überlebenden Frucht - die zentrale Aussage der simoniansichen Gnosis, welche übereinstimmend als Ausgangspunkt aller anderen gnostischen Strömungen bezeichnet wird - deuten und damit dem Verständnis des modernen Menschen zugänglich machen können, müssen wir uns mit der Struktur des simonianischen Gottesbildees beschäftigen. Dabei werden sich überraschende Querbezüge zur ersten Vision von der Lilie und mit der zweiten vom Schilf am See <Verweis auf die Schilfvision> ergeben. Die Amplifikation mit dieser Urform der christlichen Gnosis bietet uns somit die Gelegenheit, diese vier Visionen zu einer einzigen archetypischen Mystik zu verbinden - einer Mystik, die meines Erachtens beste Aussichten hat, eine zentrale Leitidee des nachchristlichen Zeitalters des Aquarius (Wassermann) zu werden.

Göttlicher Ursprung des Universums und des Menschen, des Makrokosmos und des Mikrokosmos, bildet bei Simon Magus ein symbolisches Feuer, eine Dynamis, die er auch Wurzel des Alls, Ursprung des Alls, das Ungewordene (im Sinne einer Potentialität) und Ursprung aller Begierde nach Zeugung nennt.

Dieses schöpferische Feuer, der Ursprung des Universums, entfaltet sich nun auf der geistigen Ebene zu einer Trinität von Vatergott, Muttergöttin und mann-weiblicher Sohngottheit. Bei der Ausgestaltung dieser Lehre vom göttlichen Ursprung lehnt sich Simon an den Platoniker Xenokrates an. Bei diesem steht am Anfang die Einheit, der Weltgeist, der Göttervater. Die Einheit entlässt aus sich heraus die Zweiheit. Diese Zweiheit nennt er die Weltseele (bei Simon die »Mutter des Alls«). Das Dritte dieser Trinität bildet der aus Weltgeist und Weltseele entstehende Kosmos. Diese makrokosmische Dreiheit von Weltgeist, Weltseele und Weltkörper wird gespiegelt im Mikrokomos des Menschen. Auch dieser besitzt Geist, Seele und Körper .

Neben dieser griechisch beeinflussten Differenzierung der Einheit in eine Dreiheit benutzt Simon aber auch eine jüdische. Er deutet den Schöpfungsbericht insofern um, als er der siebentägigen Genesis eine dreitägige Schöpfungsperiode Gottes voranstellt, die ausschliesslich in der göttlichen Welt handelt: Himmel (Gottvater), Erde (Muttergöttin) und der Gottessohn als der - im Unterschied zur jüdisch-christlichen Überlieferung - eigentliche Weltenschöpfer emanieren sich während dieser Zeit aus der Einheit.

Simon verwendet in Anlehnung an seine Definition des schöpferischen Feuers als Wurzel des Alls noch ein drittes Bild: Zwei Sprösslinge, welche weder Anfang noch Ende haben, kommen von oben und von unten aufeinander zu und treffen sich in der Mitte zwischen Himmel und Erde. Dort paaren sie sich und daraus entsteht die mannweibliche Kraft, welche das Universum erschafft.

Dasselbe göttliche Feuer, welches die Gottheit in eine Vater-Mutter-Sohnschöpfer-Trinität ausdifferenziert, inkarniert sich nun auch im »wüsten und leeren« Kosmos. Der aktuelle Kosmos entstand nämlich gemäss Simon aus dem potentiellen Feuer, indem ersterer dem Feuer sechs Wurzeln entnahm. In diesen sechs Wurzeln befindet sich die ganze unbegrenzte Kraft, d.h. das göttliche Feuer, und zwar sowohl inkarniert (aktuell) als auch potentiell, als Wirklichkeit und als Möglichkeit. Simon nennt deshalb die Wurzel des Alls, das göttliche Feuer, auch die siebente Kraft, die aber alle andern in sich enthält. In ihrer Ausprägung als schöpferische und mannweibliche Sohngottheit, welche über dem ursprünglichen kosmischen Chaos schwebt, bezeichnet er nun diese Dynamis als »ein Bild aus unvergänglicher Gestalt, das allein alles ordnet« .

Dieser sechsteilige, von der trinitarischen Vater-Mutter-Sohngottheit geschaffene Kosmos ist selbst wieder mannweiblich. Simon ordnet ihn deshalb in drei Paaren von gegengeschlechtlichen Symbolen, nämlich

 

1. Himmel und Erde

 2. Sonne und Mond

 3. Luft und Wasser

 

welche aber alle im ungeschaffenen göttlichen Feuer enthalten sind.

Aus der Sicht der Psychologie C.G. Jungs geschieht hier Simon ein entscheidender Einbruch archetypischer Ideen, die das damalige zeitgenössische Weltbild korrigieren. Simon weiss sicher, dass seit alters her die Welt in eine Quaternität von Elementen eingeteilt wird: in das Feuer, das Wasser, die Luft und die Erde. Im gnostischen Häretiker wird diese Quaternität nun aber erweitert und verändert, indem das Feuer als göttliche Energie eine Sonderstellung bekommt und die restlichen drei Elemente mit den drei für uns Menschen wichtigsten Himmelskörpern zu einer mannweiblichen Doppel-Triade erweitert werden .

Nachdem das göttliche Feuer sich selbst in eine Vater-Mutter-Sohn-Trinität ausdifferenziert und das doppeltriadische Universum geschaffen hat, erschafft es nun den Menschen. Der Schöpfung des Makrokosmos folgt jene des Mikrokosmos. Gott, d.h. das göttliche Feuer, nahm Staub von der Erde und bildete daraus den Menschen. Staub bildet den Urstoff des Universums. Mit obiger Schöpfungsgeschichte des Menschen betont der Gnostiker daher die Symmetrie zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos. Was aus demselben Material geschaffen ist, ist gleich strukturiert und funktioniert gleich. Auch im Menschen muss deshalb ein solches doppeltriadisches göttliches Feuer existieren, welches zudem aus einer einzigen Wurzel, der siebenten Kraft stammt. Wir werden im 9. Kapitel sehen, dass es sich dabei um das energetische Prinzip der Einheitswirklichkeit (unus mundus) handelt.

In Abschnitt 6.2 haben ich dargelegt, dass auch das System der tantrischen Chakras zu einer physisch-geistigen Doppeltriade zusammengefasst werden kann, deren Mittelpunkt (die siebente Kraft) das anahata-Chakra in der Herzgegend darstellt. Da dieses anahata das Siegel Salomos, das Symbol dieser physisch-geistigen Doppeltriade, enthält, kann sein energetischer Aspekt ebenfalls als die alles zusammenfassende siebente Kraft aufgefasst werden. Die Zahl Sechs, welche auf das Runde (Kreis) hinweist, verbindet dieses anahata der Tantristen und das göttliche Feuer des Simon Magus mit der Weltseele, in psychologischer Sprache mit der objektiven Psyche (dem kollektiven Unbewussten). Die Befreiung der Weltseele scheint sich damit offensichtlich in der Herzgegend zu vollziehen, seit alters her der Ort der Begegnung des Menschen mit dem Göttlichen.

Wir kommen damit zum vorerst paradoxen Schluss, dass die Erschaffung des Menschen gleichbedeutend ist mit der Befreiung der Weltseele aus der Verhaftung an die Materie. Wir werden unten gleich sehen, wie dieses Paradox sich löst.

Simon Magus beschreibt noch eine weitere Schöpfungsgeschichte des Mikrokosmos (des Men-schen): Gott schuf den Menschen auch nach seinem Bilde (1.Mos.1,26). Dieses »Bild« entspricht im gnostischen Denken dem Pneuma Gottes, welches wiederum nichts anderes als die sechsfache Wurzel des Alls beziehungsweise das göttliche Feuer darstellt. Wenn das Pneuma oder das göttliche Feuer zum Bild wird, so ist dies gemäss Simon gleichbedeutend damit, dass es aus einem unteilbaren Punkt entsteht. Damit wird zugleich das Kleine gross. Das Grosse aber wird in Ewigkeit bestehen und nicht wieder ins Werden eintreten.

Hier passiert nun Simon wieder eine Selbstamplifikation des Archetypus. Wenn nämlich der Punkt grösser wird, wird er zum Kreis. Wie wir oben gesehen haben, entspricht aber die natürliche Teilung des Kreises der Zahl Sechs. Die sechsfache Wurzel des Alls (das Pneuma Gottes) und der grösser werdende Punkt, d.h. der Kreis, bilden daher symbolisch gesehen Synonyme. Beide entsprechen zudem dem Bild Gottes, nach welchem er den Menschen erschafft. Der Mensch als das Bild Gottes entspricht somit dem sechsfach geteilten Kreis.

Der nach dem Bilde Gottes geschaffene Mensch, somit dieser sechsfach unterteilte Kreis, wird in Ewigkeit bestehen und nicht wieder ins Werden eintreten. Offensichtlich spricht Simon Magus hier von einem im Jenseits nach dem Tod in Ewigkeit lebenden Menschen. Wieder erstaunt das buddhistische Gedankengut bei Simon, denn die obige Formulierung des Nicht-wieder-ins-Werden-Eintretens entspricht natürlich dem aus dem Samsara anzustrebenden Nirvana. Wir werden unten sehen, dass dieser neue Mensch im Jenseits dem durch meditatives Bemühen im diesseitigen Leben aufzubauenden Hauchkörper entspricht <Verweis auf unten>.

In der archetypischen Psychosomatik, deren Methodik die Symptom-Symbol-Transformation oder Körperzentrierte Imagination darstellt, versucht man in einer introvertiert-meditativen Prozedur das Symptom einer Krankheit in eine Vision zu transformieren. In der Vision wird die »sechsfache Wurzel des Alls« beziehungsweise das göttliche Feuer im wörtlichen Sinne zum Bild. Da die Erschaffung des Menschen ebenfalls »nach dem Bilde« Gottes geschieht, wird psychologisch gesehen durch die Schau der Visionen in der meditativen Versenkung offensichtlich der Mensch neu erschaffen. Mit diesem Schluss haben wir die Essenz der gnostischen Schöpfungsgeschichte gefunden: Die vision quest - welche ich unten als Symptom-Symbol-Transformation oder Körperzentrierte Imagination näher beschreiben werde - dient der Erschaffung eines neuen Menschen nach dem Ebenbild Gottes. Wie wir weiter sehen werden, entspricht dieser neue Mensch dem Hauchkörper (der Frucht des verbrennenden Baumes, s.u.), dem geistig-seelisch-körperlichen Gefährt für das Leben nach dem Tode. Da im gnostischen Denken der Aufbau des Hauchkörpers der Befreiung der Weltseele aus der Materie aequivalent ist, entspricht auch dieser letztere Prozess der Erschaffung des Menschen. Derart löst sich das obige Paradox.

Eine dritte, auf den ersten Blick den obigen widersprechende Schöpfungsgeschichte sieht folgendermassen aus: Gott, d.h. wieder diese doppeltriadische und mannweibliche feurige Kraft, bildet den Menschen im Paradies. Mikrokosmisch gesehen entspricht laut Simon diesem Paradies die Gebärmutter. Aus dem Paradies fliesst nach alter Überlieferung ein Fluss, der sich in vier Ströme aufteilt. Ähnlich beim Menschen. Dieser sich in vier Urspünge aufteilende Fluss entspricht der Nabelschnur. Gemäss dem antiken Arzt Galen, dessen Werk Simon Magus kannte, befinden sich in dieser Nabelschnur fünf Gefässe, nämlich zwei Luftadern und zwei Blutadern und in deren Mitte der Urinleiter. Daher besteht der Mensch aus einer Quintessenz.

Wir wissen heute, dass diese abstrusen Ideen Galens nicht der Wirklichkeit entsprechen. Dennoch ist für unsere Zwecke diese Schöpfungsgeschichte des Menschen äusserst interessant. Offensichtlich bewirkt die Selbstamplifikation des Archetypus in Simon Magus, dass die ursprüngliche göttliche Doppeltriade im Menschen auf eine Quintessenz - ein Gebilde wie die Fünf auf einem Würfel - reduziert wird. Am Beispiel eines von Marie-Louise von Franz publizierten Traumes des Physikers und Nobelpreisträgers Wolfgang Pauli habe ich gezeigt, dass diese Reduktion der Doppeltriade auf die Quintessenz der Vereinigung von extravertierter Exploration und introvertierter Meditation im Menschen entspricht. Durch diese Vereinigung, welche einer Bewusstseinserweiterung entspricht, wird der moderne Mensch in die Lage versetzt, bewusst sogenannte Synchronizitäten wahrzunehmen. In diesen sind äussere und innere Ereignisse sinngleich verbunden. Die Extraktion dieses Sinnes zeigt dem Individuum den »Willen Gottes« bezüglich den weiteren Weg desselben in seinem Leben. In der archetypischen Psychosomatik steht die Synchronizität hinter der unten näher ausgeführten Methode der Symptom-Symbol-Transformation oder Körperzentrierte Imagination (s.u.).

Diese dritte Schöpfungsgeschichte des Simon Magus bedeutet einen Fortschritt gegenüber den ersten zwei. Durch die Zusammenfassung zweier Pole der Doppel-Triade (des Siegels Salomos) in der Quintessenz entsteht eine Asymmetrie. Der Makrokosmos ist jetzt doppeltriadisch strukturiert, der Mikrokosmos besteht aus einer Quintessenz. Da diese letztere in einem Quadrat angeordnet ist, beschreibt Simon Magus hier letztlich die Quadratur des Zirkels. Da das Quadrat dem Weiblichen, der Kreis jedoch dem Männlichen entspricht, wird hier von einer Materialisierung des Geistes gesprochen. Eben diese Materialisierung des göttlichen Pneumas steht aber hinter der Erschaffung des Menschen. Damit löst sich der vermeintliche Widerspruch dieser dritten Schöpfungsgeschichte mit den ersten zwei.

 

 

8.2 Der verbrennende Baum und die überlebende Frucht als Symbol der Reinkarnation im Jenseits

 Das gnostische Denken ist in seinem innersten Wesen zirkulär. Wenn der göttliche Feuergeist den Makrokosmos und den Mikrokosmos geschaffen hat, wird er nach einer gewissen Zeit sich wieder in sich selbst zurückziehen und zu seinem Ursprung, nämlich zum unteilbaren und unausgedehnten Punkt zurückkehren. Dann erfolgt ein neuer Zyklus von Schöpfung und Vernichtung bis in alle Unendlichkeit. Ähnlich beschreiben die Quantenphysiker den »Tanz der Materie« als einen steten Reigen von Zeugung und Vernichtung der Elementarteilchen. Aber auch an das buddhistische Samsara, die Folge von Wiedergeburten im unerlösten Zustand, wird man erinnert. Der buddhistische Mönch investiert bekanntlich seine gesamte psychische Energie in die Meditation, durch welche er schliesslich dem Samsara entrinnen und als Erlöster in das Nirvana eingehen kann.

Wie steht es diesbezüglich in der Gnosis des Simon Magus? Bleibt der Mensch im Samsara gefangen oder hat er die Möglichkeit, ins Nirvana einzugehen. Die Antwort lautet: Es hängt von jedem Einzelnen ab, was mit ihm im Jenseits geschehen wird. In diesem Erdenleben, im Hier und Jetzt der momentanen Existenz, muss der Mensch, durch eine Arbeit an sich selbst, die Grundlage für das Leben im Jenseits schaffen.

Der Rückzug des göttlichen Geistes in sich selbst wird durch ein eindrückliches Bild dargestellt, das an die Apokalypse erinnert: Das göttliche Feuer, die ungeschaffene Dynamis, symbolisiert Simon durch einen Baum, aus dem alles Fleisch gespeist wird. In seiner sichtbaren Form, mit seinem Stamm, seinen Zweigen, seinen Blättern und seiner Rinde entspricht er der inkarnierten Form des göttlichen Feuers. Wenn sich die göttliche Dynamis in sich selbst zurückzieht, verbrennt dieser Baum.

Dieser Zerstörung entgeht nur die Frucht des Baumes, sofern diese »zum reinen Bilde geworden ist und ihre Gestalt abgelegt hat«. Derart wird es möglich, dass die Frucht in die Scheuer gebracht werden kann und nicht im Feuer verbrennt. Wenn aber die Frucht nicht dem obigen Transformationsprozess unterworfen wird, wird auch sie mit dem Rückzug des göttlichen Feuers zusammen mit dem Kosmos vernichtet. Dies deshalb, weil das in ihr schlummernde, potentielle göttliche Pneuma, die sechsfache Wurzel des Alls, nur Möglichkeit bleibt und nicht Wirklichkeit wird. Gelingt dem Menschen jedoch diese Transformation der Früchte in das Bild, werden diese zu »pneumatischen Wesenheiten, die unvergänglich sind« und er selbst ist ein Ebenbild Gottes geworden. Er wird als inkarniertes Pneuma »bestehen bis in die unendliche und unveränderliche Ewigkeit und nicht wieder ins Werden eintreten« . Man wähnt sich beim Lesen dieser Stelle in einem buddhistischen Kloster...! Dem Menschen kommt offensichtlich die aus christlicher Sicht ungeheuerliche Aufgabe zu, durch obige Prozedur vom Samsara ins Nirvana überzutreten und damit seine und die Zerstörung des Kosmos aufzuhalten und deren Essenz in das Jenseits hinüberzuretten. Dies aber bedeutet eine mikrokosmische und eine makrokosmische Erlösung, welche entscheidend vom Verhalten des einzelnen Menschen abhängt.

Wie Leisegang richtig anmerkt, symbolisiert die Frucht die menschliche Seele, während der Baum dem Körper entspricht (aus ihm wird das Fleisch!). Diese menschliche Seele muss »zum reinen Bilde werden und ihre Gestalt ablegen«. »Zum reinen Bilde werden« heisst einerseits pneumatisch (»geistig«), andererseits göttlich werden. Mit anderen Worten ist hier eine Prozedur geschildert, in welcher die menschliche Seele in das in ihr potentiell schlummernde göttliche Pneuma (»göttlicher Geist«) oder in das göttliche Feuer verwandelt werden soll. Da das Feuer sich selbst nicht verbrennen kann, überlebt die zum Bilde gewordene Frucht, womit die menschliche Seele den Zustand der Unsterblichkeit erreicht.

Bevor wir diese Prozedur psychologisch deuten können, müssen wir uns kurz mit dem gnostischen Geistbegriff beschäftigen. Unter »Geist« versteht der Gnostiker »nicht unseren modernen, ganz abstrakten Geistbegriff. Für ihn ist Geist immer noch Stoff, wenn auch ein ganz feiner und ganz leichter, ein Hauch, ein Fluidum«. Der »göttliche Geist« des Gnostikers besitzt daher sehr viel Ähnlichkeit mit dem oben erwähnten Hauchkörper. Wenn die Seele also pneumatisch werden soll - symbolisch ausgedrückt: die Frucht des verbrennenden Baumes soll zum Bild werden, damit sie das Weltende überlebt -, heisst dies mit anderen Worten, dass diese Seele sich mit einem »Geistkörper« oder eben mit einem Hauchkörper (subtle body) verbindet, womit die Einheit von Geist, Seele und Körper wiederhergestellt ist. Dabei handelt es sich aber beim Körper nicht mehr um den grobstofflichen Leib, sondern um dessen hauchkörperartige Form, welche in der Verbindung mit der Seele im Jenseits unsterblich wird.

Die obigen Ausführungen bewegen sich in einer »Zwischenwelt« zwischen symbolischer Aussage und religionspsychologischer Deutung. Um sie definitiv in die Welt der archetypischen Psychosomatik herunterzuholen, müssen wir uns nun noch fragen, was diese Frucht, die zum Bilde wird und dabei ihre Gestalt aufgeben muss, als psychosomatischer Prozess bedeuten könnte. Dies soll im nächsten Abschnitt geschehen, in welchem die wesentliche Methode der archetypischen Psychosomatik, die Symptom-Symbol-Transformation oder Körperzentrierte Imagination, kurz beschrieben wird.

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