Remo F. Roth

Dr. oec. publ., Ph.D.

dipl. analyt. Psychologe (M.-L. v. Franz)

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Stichworte: Vita longa des Paracelsus

  

4. PARACELSUS UND DAS ERNEUERTE GOTTESBILD:

 

Kapitel 4 von Die Gottsucher, engl. Synchronicity Quest

4.1 Die triebhafte Antitrinität des Paracelsus

4.2 Exploration und Meditation: Die Befreiung des Gottmenschen aus der Triebsphäre

4.3 Die Transformation der Aggression

4.4 Die Transformation der Sexualität

4.5 Die Vereinigung von Logos und Eros im hermaphroditischen Gottmenschen

4.6 Die Aktive Imagination und der alchemistische Pelikan 


  4.1 Die triebhafte Antitrinität des Paracelsus

 

Die ersten drei Kapitel haben uns die ausserordentlich wichtige Tatsache vor Augen geführt, dass aus archetypischen Gründen die Zahl Drei und damit jede Triade oder Trinität bei einer Berücksichtigung ihres qualitativen Aspektes immer und überall auch eine ambivalente Zweiheit darstellen muss. Als notwendige Folge dieser vorbewussten (1) Tatsache musste sich daher im Laufe der christlichen Entwicklung mit der Zeit ein Gegenprinzip zur Trinität ausbilden.

Wir haben weiter gesehen, dass dieses Gegenprinzip schon bei den Gnostikern des Frühchristentums sich bemerkbar machte, indem diese dem rein männlichen Aspekt des christlichen Gottes ein weiblich-göttliches Prinzip entgegensetzten, dessen Sitz zudem viele von ihnen im menschlichen Körper oder in der Materie vermuteten. Da jedoch dieses Prinzip selbst noch nicht in eine Trinität ausdifferenziert war, konnte sich die gnostischen Uridee einer Vater-Mutter-Gottheit nicht weiterentwickeln. Sie verharrte infolge ihres Einheitsaspektes in der Unerkennbarkeit, und wir haben gesehen, dass die notwendige Bedingung für die Erkennbarkeit und individuelle Erfahrbarkeit des Einen dessen Ausdifferenzierung in eine Dreiheit darstellt: Das Andere muss sich vom unerkennbaren Einen abspalten, womit das Dritte diese Gegensatzspannung löst und das Eine erkennbar wird. Diese Entwicklung von der Einheit zur Dreiheit wäre daher auch in der Gnosis notwendige Voraussetzung für eine Weiterentwicklung des weiblichen Aspektes des Gottesbildes gewesen. Eben diesen Schritt konnte diese frühe Häresie des Christentums jedoch nicht vollziehen.

Eine erste, allerdings unbewusste Lösung des Problems der ambivalenten Zweiheit der Trinität findet sich in den Phantasieprodukten einer späteren häretischen Gegenströmung zum offiziellen Christentum, in der Alchemie, vor allem im Werk des Arztes Paracelsus (1493 bis 1541) und seiner Schüler, somit seit dem ersten Drittel des 16. Jahrhunderts (2), und sie ist von da an weit verbreitet (3).

Da die christliche Definition der Trinität infolge der Nichtberücksichtigung ihrer ambivalenten Zweiheit von Geist und Materie unvollständig war, vollzog sich in den Alchemisten der im dritten Kapitel geschilderte Absturz Gottes in die Materie. Derart fanden sie das gnostische Prinzip des weiblichen Gottesaspektes in ihrem Begriff der prima materia wieder, welche den Ausgangspunkt ihres Opus (Werkes) darstellte und gemäss ihrer Anschauung in der Materie oder im menschlichen Körper verborgen war (vgl. Abb. 4.1).

 

 

 

 

Die Zentralidee des alchemistischen Opus besteht darin, dass diese im menschlichen Körper oder in der uns umgebenden Materie verborgene und verdorbene prima materia gereinigt und anschliessend aus ihr ein Geist befreit werden muss. Da diese prima materia nicht nur göttliche Qualität besitzt, sondern sogar als co-aetern mit dem christlichen Gott gedacht wurde (4), bedeutet das Opus gleichzeitig die Befreiung eines dem männlichen Gott ebenbürtigen weiblich-göttlichen Geistes aus der Materie oder aus der Triebsphäre des Menschen. Durch dessen Erlösung aus dieser Gefangenschaft wird zudem der weibliche Aspekt Gottes mit dessen männlichem Aspekt vereinigt.

Dieser Gedanke ist natürlich äusserst ketzerisch, besagt er doch letztlich, dass im Verlaufe des Opus aus der prima materia ein "Licht", das heisst "Erleuchtung" und Erkenntnis, befreit und an das obere Gottesbild angeschlossen werden kann, womit auch dieses sich wandeln wird. In einem dynamischen Prozess, in welchem zudem der Mensch mit eingeschlossen ist, soll somit das obere Gottesbild gewandelt werden, ein Gottesbild, welches die Kirchenväter in einem lange dauernden Prozess schliesslich als statisches "übermenschliches" Prinzip definierten, dessen Eigenschaften ein für alle mal als vorgegeben angenommen wurden.

Das alchemistische Opus des Mittelalters besteht somit auf den kürzesten Nenner gebracht darin, dass der Mensch in sich selbst die in seinem Unbewussten bereits vollzogene Wandlung des Gottesbildes bewusst nachvollzieht. Da ein weiteres wesentliches Ziel des Opus die Herstellung der medicina catholica, der alles heilenden Medizin ist, scheint die Heilung von physischem und psychischem Leiden offensichtlich durch eine Wandlung der Gottesvorstellung in jedem einzelnen Menschen zu geschehen, eine äusserst revolutionäre und aus der heutigen Sicht sehr moderne Anschauung. Sie liegt nämlich auch den tieferen Aspekten des von C.G. Jung so genannten Individuationsprozesses zugrunde. Und wir erinnern uns, dass schon die alten Gnostiker ähnliche Anschauungen besassen. Auch sie glaubten nämlich, dass durch eine Offenbarung der "Mutter", welche prinzipiell von jedem Menschen erfahren werden kann, neues Wissen über die obere Vater-Gottheit befreit wird.

Während die meisten Alchemisten wie die Gnostiker diese prima materia als eine Einheit sahen, lässt sich bei Paracelsus die Entwicklung zu einer der christlichen Trinität entgegengesetzten Antitrinität beobachten. Darin liegt meines Erachtens die ausserordentlich hoch einzuschätzende Leistung des Schweizer Alchemisten und Arztes. Wie wir im sechsten Kapitel sehen werden, wiederholt sich dieser Prozess der unbewussten Wandlung des Gottesbildes in den Sechzigerjahren unseres zu Ende gehenden Jahrhunderts in der Elementarteilchen- und Quantenphysik: Murray Gell-Mann postuliert im Jahr 1964 sein einfachstes Quark-Modell in welchem der "Trinität" der drei Quarks up, down und strange eine solche von anti-up, anti-down und anti-strange entgegensteht.

Wie sich dieser Prozess der Ausdifferenzierung eines doppel-trinitarischen Gottesbildes und dessen dadurch initiierte Wandlung in Paracelsus durchsetzte, können wir am besten einem seiner Hauptwerke, der De vita longa (Das Buch vom langen Leben), entnehmen. Ich versuche deshalb im folgenden eine kurze Zusammenfassung dieses schwierig zu verstehenden Buches zu geben. Im Wesentlichen bilden diese Ausführungen eine Zusammenfassung, Strukturierung und weitere Ausdeutung der von C.G. Jung kommentierten vita longa (5).

Als intuitiver Typus erfindet Paracelsus immer neue Begriffe für gleiche oder ähnliche Tatbestände. In der vita longa finden sich daher eine verwirrende Zahl von Synonymen. Diese Inflation von Neologismen hat aber meines Erachtens auch damit zu tun, dass er den von ihm gefundenen Prozess zwar in mythologisierender Terminologie umschreiben, jedoch die dahinter wirkenden psychologischen Prinzipien noch nicht bewusst verstehen konnte. Erst das umfangreiche Lebenswerk C.G. Jungs hat die Voraussetzungen geschaffen, den vom alchemistischen Meister beschriebenen Prozess in eine tiefenpsychologische Erkenntnis umformen zu können. Die Beschreibung des von Paracelsus vorgeschlagenen Opus in der von C.G. Jung erarbeiteten empirischen Terminologie der Tiefenpsychologie ist denn auch der Hauptinhalt meiner Ausführungen.

Die in Tabelle 4.1 dargestellte prima materia besteht bei Paracelsus vorerst einmal aus einem Gegensatz zwischen dem Einen und dem Anderen. Das eine Prinzip nennt Paracelsus den Iliaster, das andere den Aquaster. Der Iliaster ist ein feuriges, aktives und männliches Prinzip, der Aquaster ein wässeriges, passives und weibliches. In jedem Menschen wirken beide Prinzipien gleichzeitig, welche Tatsache uns unmittelbar an die Wirkungsweise des vegetativen Nervensystems erinnert.

Den Iliaster nennt Paracelsus auch Ares. Er entspricht somit dem Kriegsgott Mars, dessen Wirkungsprinzip wir in einer psychologischen Terminologie zwangslos dem Aggressionstrieb gleichsetzen können. Der Aquaster wird bei Paracelsus mit der Aphrodite-Venus, der Liebesgöttin, in Verbindung gebracht. Wir denken dabei natürlich sofort an den zweiten Grundtrieb des Menschen, den Sexualtrieb.

Iliaster und Aquaster bilden jedoch gleichzeitig auch die Grundprinzipien des ganzen Kosmos, das heisst sie stellen Prinzipien einer übermenschlichen Ganzheit dar. C.G. Jung hat für diesen die ganze Menschheit umfassenden Aspekt der Psyche den Terminus des kollektiven Unbewussten eingeführt. Iliaster und Aquaster bilden daher Strukturdominanten des kollektiven Unbewussten, sie sind archetypische Prinzipien. Da diese Prinzipien bis in die unbelebte Materie hinunterreichen, hat sie Paracelsus in genialer Voraussicht zwei Substanzen der anorganischen Materie gleichgesetzt. Den Iliaster nennt er auch Sulphur, den Aquaster Sal: Schwefel, das feurige Prinzip par excellence, und Sal, welches immer die Tendenz hat, sich im Wasser aufzulösen und damit zum wässerigen Prinzip gehört, bilden die beiden Grundelemente der prima materia.

Wenn wir diese Prinzipien tabellarisch zusammenfassen, ergibt sich folgende Aufstellung:

feuriges, aktives Prinzip der prima materia:

wässeriges, passives Prinzip der prima materia:

Iliaster

Aquaster

Ares-Mars

Aphrodite-Venus (Melusine)

Sulphur (Schwefel)

Sal (Salz)

Aggression

Sexualität

Wir erhalten derart eine Zweiheit von Prinzipien. Diese Zweiheit entspricht jener des Gegensatzes zwischen dem Einen und dem Anderen, welchen ich im zweiten Kapitel anhand der Jungschen Interpretation der ersten zwei Zahlen der natürlichen Zahlenreihe dargestellt habe. Man wird aber sofort auch an die zwei Grundprinzipien Sigmund Freuds, an Eros und Thanatos erinnert.

Zu Beginn des alchemistischen Opus sind diese beiden Prinzipien von Iliaster und Aquaster miteinander vermischt, sie bilden vorerst eine ununterscheidbare Einheit in einer der christlichen Trinität entgegengesetzten prima materia. Die Alchemisten verliehen dieser prima materia menschliche Attribute und stellten sie sich deshalb als einen Hermaphroditen oder Androgyn vor. Dieser stellt ein doppelgeschlechtliches Menschenwesen, ein monströses Mann-Weib dar. Der Hermaphrodit entspricht damit jener sehr alten Idee eines Menschen vor der Erschaffung des Menschen, der Idee des sogenannten Protanthropos. Nach gewissen gnostischen Ideen erschafft Gott den eigentlichen Menschen aus diesem vorgeschichtlichen grösseren und hermaphroditischen Menschen.

 
prima materia
iliastrischer Aquaster
melusinischer Ares-Mars
Hermaphrodit
Androgyn
Vermischung von Aggression und Sexualität

Es ist mir bewusst, dass die obigen Ausführungen für einen gläubigen Christen schockierend sein müssen. Die häretische Idee, dass Gott in die Materie versinkt, und diese damit letztlich auch vergöttlicht, könnte ein aufgeschlossener Christ vielleicht noch akzeptieren. Solche Tendenzen sind denn auch in der modernen esoterischen Subkultur sehr populär. Die Idee hingegen, dass Gott zu einem bisexuellen Geschöpf mit menschlichen Attributen - d.h. mit weiblichen und männlichen Geschlechtsteilen (6) - werden soll, dürfte weit mehr schockieren. Die starke Zunahme der Bisexualität in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts (7) zeigt meines Erachtens jedoch, dass sich der Archetypus des Absturzes Gottes und dessen Wiederauftauchen in der prima materia des Hermaphroditen unbewusst bereits durchgesetzt hat. Die heute konkretisiert gelebte Idee der Androgynität bildet daher die moderne Form der zu bearbeitenden und zu veredelnden Ausgangssubstanz des modernen alchemistischen Opus.

Paracelsus bezeichnet diesen vorerst in einer ununterscheidbaren Einheit verharrenden "unteren" und triebhaften Aspekt des Göttlichen, die zu wandelnde prima materia, auch als den melosinischen Ares-Mars. Aphrodite-Venus wird hier also durch die Melusine ersetzt. Diese Gestalt der altfranzösischen Literatur, die wahrscheinlich auf keltische Wurzeln zurückgeht, ist eine Wasserfee mit einem Fisch- oder Schlangenschwanz, ein halb menschliches und halb tierisches Wesen. Hier zeigt sich nun, dass im Unbewussten des Paracelsus eine Verschiebung von der menschengestaltigen Venus zu diesem tiermenschlichen Mischwesen stattfindet. Damit ist deutlich gemacht, dass das Opus des Paracelsus tatsächlich aus der Triebsphäre heraus beginnen sollte, und dass die prima materia, die Ausgangssubstanz dieser Prozedur den tierisch-menschlichen Instinkten entspricht (vgl. Abb. 4.2).

 

 

Die Verschiebung zur Melusine ist aber noch aus einem anderen Grund wichtig: In der altfranzösischen Sage taucht diese Gestalt immer in Grenzsituationen auf, dann nämlich, wenn der Held sich in einer ausweglosen Lebenslage befindet und sein ganzer Lebensplan zusammengebrochen ist (8). Jung führt dazu weiter aus: "Tritt eine derartige Katastrophe ein, so sind nicht nur alle Brücken nach rückwärts abgebrochen, sondern es scheint auch kein Weg weiterzuführen. Man steht vor einem hoffnungslos undurchdringlichen Dunkel, dessen abgründige Leere nun plötzlich ausgefüllt wird durch die sichtbare Vision oder fühlbare Gegenwart eines fremdartigen, aber hilfreichen Wesens...Diese Bedingung der Animaerscheinung findet sich auch in der Melusinensage." (9).

Seit meiner ersten Abfassung dieser Ausführungen über Paracelsus im Jahr 1981 sind nun 20 Jahre vergangen. Das Schicksal hat mich im Laufe dieser Jahre an das Problem der HIV-Positivität und des AIDS-Syndrom herangeführt. Psychotherapien und Analysen mit HIV-Betroffenen und AIDS-Kranken haben mir gezeigt, dass in Menschen, denen die Diagnose "HIV-positiv" mitgeteilt wird, die sich so von diesem Moment an in der oben geschilderten, vermeintlich hoffnungslosen Lebenslage befinden, eben diese Melusine konstelliert ist. Wenn diese Menschen lernen, sich der Innenwelt der Visionen zuzuwenden, die hauptsächlich aus dem Bereich der Triebsphäre (Melusine!) stammen, besteht gemäss meiner bisherigen Erfahrung eine grosse Chance, dass bei ihnen die Krankheiten des AIDS-Syndroms nicht ausbrechen werden. Da ich überzeugt bin, dass das HIV-Phänomen den Beginn der apokalyptischen Endzeit des christlichen Aeons darstellt, schien es mir angebracht, meine vorläufigen Resultate in meinem Buch Hat AIDS einen Sinn? - Behandlungsmöglichkeiten der HIV-Infektion auf der Grundlage tiefenpsychologischer Imaginationsmethoden (10) darzustellen.

Doch kehren wir zu Paracelsus zurück. Im Gegensatz zu vielen seiner alchemistischen Kollegen beschreitet er nun den Weg der Ausdifferenzierung der unerkennbaren Einheit in die Dreiheit, indem er seine prima materia, den melosinischen Ares-Mars, einem Wandlungsprozess unterzieht.

In einer ersten Stufe dieses Prozesses muss dieses doppelgeschlechtliche Monstrum, welches psychologisch gesehen einer Vermischung von Aggression und Sexualität entspricht, gemäss Paracelsus nun in seine Komponenten, in den Iliaster und in den Aquaster, in den Ares-Mars und die Venus-Melusine oder auch in Sulphur und Sal aufgespalten werden. Mit Hilfe dieser Prozedur vollzieht Paracelsus an seinem melosinischen Ares die Aufteilung des Einen und Unerkennbaren in den Gegensatz des Einen und des Anderen. Das untere göttliche Prinzip, die prima materia, wird derart vorerst in eine Zweiheit aufgeteilt (11). Modern ausgedrückt heisst dies, dass die triebhaften Prinzipien von Aggression und Sexualität voneinander getrennt werden.

Um diese Trennung vollziehen zu können, benötigt Paracelsus jedoch ein drittes Prinzip. Er nennt dieses einerseits Hephaistos-Vulcanus, andererseits Mercurius-Hermes. Diesen Vulcanus ordnet er dem menschlichen Magen zu (12). Auf einer biologischen Ebene scheint das Prinzip des Hephaistos-Vulcanus offensichtlich dem Hungertrieb zu entsprechen (vgl. Abb. 4.3).

 

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Mit diesem Schritt ist es Paracelsus gelungen, die ursprüngliche Einheit der prima materia in eine Trinität zu differenzieren. Da sie als triebhaftes Prinzip dem geistigen des christlichen Gottes entgegensteht, werde ich sie im folgenden als Antitrinität bezeichnen. Wie oben dargelegt wurde, verwendet Paracelsus zudem eine verwirrende Vielfalt von Bezeichnungen für diese Antitrinität. Neben der obigen von Ares-Mars, Mercurius-Hermes und Aphrodite-Venus findet sich jedoch jene von Sulphur, Mercurius und Sal am häufigsten (vgl. Abb. 4.4).

 

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Während es sich bei der ersten Antitrinität um eine Beschreibung einer göttlichen Trinität in der Triebsphäre des Menschen handelt, scheint die zweite die intuitive Ahnung einer göttlichen Allbeseelung der Natur, das heisst das Prinzip der anima mundi (Weltseele) darzustellen. Da Paracelsus als Alchemist in den Kategorien der Spiegelbildlichkeit von Mikrokosmos und Makrokosmos denkt, wendet er als Arzt die zweite Antitrinität auch auf den menschlichen Körper an und sagt beispielsweise: "Jeder Körper besteht aus 3 Substanzen. Das sind Schwefel, Quecksilber und Salz." (13). Wie aus seinem Werk hervorgeht, meint er damit den sogenannten Astralkörper und postuliert eine letzthinnige Identität zwischen der makrokosmischen Weltseele und dem mikrokosmischen subtle body. Wir werden im fünften Kapitel sehen, dass sowohl der hinduistische als auch der buddhistische Tantrismus zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangten, so dass sich die paracelsische mit der tantrischen Erfahrung ohne weiteres vergleichen lässt (14).

Ohne dies bewusst zu verstehen, hat Paracelsus durch diese Ausdifferenzierung des unteren Gottesbildes in eine Trinität eine Revolution eingeleitet, die von der Menschheit des dritten christlichen Jahrtausends noch wird weitergeführt werden müssen. Wie ich im zweiten Kapitel hergeleitet habe, stellt nämlich die Zahl Drei und damit auch jede Triade oder Trinität ein Symbol der Energie dar. Weiter hat gemäss den dortigen Ausführungen aus vorbewusst-archetypischen Gründen jede Triade die Tendenz, sich in eine ambivalente Zweiheit weiterzuentwickeln. Aus dieser modernen Interpretation der Trinitätsidee können wir folgern, dass auch der Energiebegriff einer ambivalenten Zweiheit entsprechen muss. Die physikalisch-chemische Energie kann daher nicht die einzig mögliche sein, sondern sie muss aus vorbewusst-archetypischen Gründen (infolge der ambivalenten Zweiheit des Dritten) ein Komplement besitzen.

Die materialistische Wissenschaft der Neuzeit hat jedoch diesen komplementären Aspekt der Energiebegriffes ausgeblendet und wiederholt derart letztlich, auf die Geschehnisse in der Materie bezogen, die einseitige und unvollständige Definition des Gottesbildes der Kirchenväter. Seit Paul Dirac ist dieser komplementäre Aspekt jedoch durch die Hintertüre wieder in das westliche Wissenschaftsgebäude eingedrungen und verwirrt die Physiker als sogenannte "negative Energie" mit ihren seltsamen Eigenschaften.

Aufgrund der Urerfahrung seines eigenen Absturzes in das kollektive Unbewusste in den Jahren 1913 bis 1917 dämmerte es C.G. Jung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass die von ihm postulierte objektivpsychische Energie eben diesen komplementären Aspekt der physikalischen Energie darstellt. Leider hat sich die empirisch beobachtbare Tatsache, dass diese objektivpsychische Energie (die "Wirklichkeit der Seele" Jungs) einem eigenständigen Prinzip entspricht, bis heute nicht durchgesetzt, und sogar in Kreisen der heutigen Jungianer wird sie als ein "nothing but" behandelt. Erst langsam reift bei einigen Wenigen die Erkenntnis, dass es sich bei dieser neuartigen Form der Energie makrokosmisch gesehen um das mittelalterliche Prinzip der weiblich-göttlichen Weltseele handelt, welche das ganze Universum durchdringt.

Auch die naturwissenschaftliche Medizin erlag unbewusst derselben Nachahmung der unvollständigen Definition des Gottesbildes der Kirchenväter. Paracelsus würde sich im Grabe umdrehen, wenn er erleben könnte, wie sie sein Konzept von Sulphur, Mercurius und Sal, das heisst in einer modernen Sprache, das energetische Prinzip, auf eine materialistische Betrachtungsweise reduziert hat. Auch im Mikrokosmos, das heisst im menschlichen Körper, muss aus den oben dargelegten Gründen nämlich ein zweiter, ambivalenter Aspekt der Energie vorhanden sein. Dieser mikrokosmische subtle body-Aspekt entspricht der oben erwähnten Weltseele des Makrokosmos, und es besteht eine grosse Wahrscheinlichkeit dafür, dass beide akausal und nichtlokal verbunden sind.

Weshalb führt Paracelsus als drittes Prinzip der Antitrinität ausgerechnet Hephaistos-Vulcanus ein? Um diesen Sachverhalt zu verstehen, müssen wir in die Frühgeschichte der Menschheit, in die Zeit des Übergangs von der Jäger- und Sammlerkultur zur Ackerbaukultur zurückblenden. Das Wandern und ruhelose Umherziehen stellt einen wesentlichen Aspekt der Jäger- und Sammlerkultur dar. In jener urgeschichtlichen Zeit ernährten sich die Menschen noch sehr ähnlich wie die Tiere, indem sie nämlich auszogen, um in eigentlichen Raub- und Beutezügen essbares Fleisch, Wurzeln und Beeren zu beschaffen. Die psychische Energie dieser Urmenschen war somit noch fast vollständig in den Wandertrieb investiert. Dieser wiederum war sehr eng mit dem Hungertrieb verbunden, denn letztlich trieb der Hunger diese Tiermenschen in die Wanderschaft und auf die Jagd. Der Wanderer und Jäger Wotan, der in den Visionen des Niklaus von Flüe im nächsten Kapitel auftauchen wird, ist ein ausgezeichnetes Symbol für den psychischen Zustand dieser Urmenschen.

Die Wissenschaft von der Urgeschichte der Menschheit (15) nimmt heute an, dass der Mensch zwischen 15'000 und 10'000 vor Christus aus dem damals schon länger zur Feuerzeugung verwendeten Feuerstein (Flint) vorerst den Faustkeil, später dann die Lanzenspitzen und messerähnliche Werkzeuge entwickelte. Dieser Flint eignete sich für derartige Werkzeuge ausgezeichnet, da er infolge seiner kristallinen Struktur in jede Richtung springen kann, wobei der Bruch sehr scharfe Kanten hinterlässt. Diese Eigenschaft half dem Menschen bei der Erfindung der Lanze und des Messers. Da der Flint von nun an sowohl für die Feuerzeugung als auch für die Herstellung von Lanzen verwendet wurde, bildeten Feuer und Speer für den archaischen Menschen eine natürliche symbolische Einheit. Der Speer des keltischen Gottes Lug entspricht daher dem Blitz (16).

Ungefähr um 13'000 vor Christus ereignete sich ein weiterer Quantensprung im Bewusstsein des Urmenschen. Im östlichen Mittelmeerbecken, welches auch die Urheimat der drei grossen Religionen des Judentums, des Christentums und des Islams darstellt, entdeckte der Urmensch die Essbarkeit des Wildgetreides. Erst mit der Erfindung der lanzen- und messerähnlichen Werkzeuge aus dem Flint war er in der Lage, diese neue Nahrungsquelle rationell zu ernten. Zur Verwirklichung der Idee der Kultivierung dieses Getreides war es dann nur noch ein kleiner Schritt. So konnte der Mensch des östlichen Mittelmeerbeckens langsam in die Sesshaftigkeit und in die Ackerbaukultur hineinwachsen. Diesem Prozess folgte die Domestikation gewisser Wildtiere, und um ungefähr 6'000 vor Christus lassen sich schon vielerorts Ackerbaukulturen nachweisen. Der Urmensch wird sesshaft und ortsgebunden. Wir werden diesem überaus wichtigen Prozess in den Ausführungen über Niklaus von Flüe im nächsten Kapitel wieder begegnen.

Wir haben oben gesehen, dass in der Jäger- und Sammlerkultur der grösste Teil der psychischen Energie des Menschen im Wandertrieb gebunden war. Mit der Sesshaftigkeit übernahm die Natur einen Teil des Aufwandes für die Ernährung und die Stillung des Hungers des Menschen, denn das Getreide wächst bekanntlich von selbst (17). Die bisher im Wandertrieb gebundene Libido konnte sich daraus teilweise befreien, da sie darin nicht mehr benötigt wurde. Diese psychische Energie konnte sich derart beim Übergang zur Ackerbaukultur in den Explorationstrieb ergiessen. Deshalb markiert dieser Übergang den Beginn vieler und wesentlicher Entdeckungen und Erfindungen. Der Mensch entwickelt sich zu einem kultürlichen Wesen.

In der griechisch-römischen Mythologie wird diese Entwicklung durch den Schmied Hephaistos beziehungsweise Vulcanus symbolisiert (18). Wie der germanische Wieland zeichnen sich diese Götter dadurch aus, dass sie am Fuss oder am Bein verwundet sind. Durch diese Behinderung wurde ihr Wandertrieb abrupt gestoppt. Statt mit den anderen Männern der Jagd zu frönen, waren sie dazu verurteilt, zuhause in der Höhle "bei den Müttern" zu sitzen und Trübsal zu blasen. Doch dürfte ihnen dies bald einmal zu langweilig geworden sein. Die abrupt aus dem Wandertrieb verdrängte Energie besetzte einen neuen Trieb - die Exploration oder den Erfindertrieb. In vielen Kulturen symbolisiert deshalb der am Fuss oder am Bein Verwundete den schöpferischen Erfinder. Wesentlich für diese Umlagerung der Energie aus dem Wandertrieb in den Explorationstrieb scheint somit die Behinderung der Fortbewegungsfähigkeit zu sein. Im grossen Rahmen einer Kultur gesehen bedeutet diese Behinderung aber nichts anderes als den Entschluss zur Sesshaftigkeit und Ortsgebundenheit.

Wenn Paracelsus Vulcanus-Hephaistos dem Magen zuordnet, dann hat er - ihm selbst wahrscheinlich unbewusst - diese Überleitung der psychischen Energie im Hunger- und Wandertrieb in den Explorationstrieb beschrieben. Zugleich hat er die bisherige Dualität von Aggression und Sexualität - den melosinischen Ares-Mars - in die Antitrinität von Aggression, Exploration und Sexualität erweitert, und derart in einem gewissen Sinn die Aggression von der Sexualität getrennt. Natürlich gelang ihm dies nur, weil diese Antitrinität einer vorbewusst-archetypischen Struktur in der menschlichen Seele entspricht. Derart hat aber Paracelsus gleichzeitig auch das von den Kirchenvätern verteufelte erdhafte Prinzip im Menschen in eine Trinität differenziert und damit die Voraussetzung zu dessen Erkennbarkeit geschaffen. Die Differenzierung in die Drei ist ja, wie wir im zweiten Kapitel gesehen haben, die Voraussetzung zur Erkennbarkeit der ursprünglichen Einheit.

Zugleich ist aber in Paracelsus ein Konflikt zwischen der christlichen Trinität und dieser triebhaft-heidnischen Trinität (vgl. Abb. 4.5) entstanden, über den er offenbar einigermassen bewusst war, schreibt er doch: "Ich bekenn mich auch des, das ich heidnisch schreib und doch ein Christ bin" (19). Im Gegensatz dazu herrscht im heutigen Menschen völlige Unbewusstheit über diesen Konflikt in der christlichen Seele, obwohl dessen Auswirkungen immer deutlicher in Erscheinung treten.

 

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Hephaistos-Vulcanus dient der Trennung von Ares-Mars und Aphrodite-Venus, wenn wir Paracelsus glauben. Diese paracelsische Vermutung bestätigt sich in einem griechischen mythologischen Motiv. Hephaistos-Vulcanus ist der Gatte der schönen Aphrodite-Venus. Diese betrügt ihn mit dem Kriegsgott Ares-Mars. Er erfindet deshalb ein unsichtbares Netz, welches er über die beiden wirft und mit einem Schloss verschliesst, als sie sich auf dem Bett vergnügen.

Derart hat die griechischen Mythologie eine der tiefsten menschlichen Erkenntnisse im symbolischen Bild ausgesprochen, und es bietet sich mir die Gelegenheit aufzuzeigen, wie modern solche Mythen sind, wenn man sie in eine psychologische Sprache umsetzen kann. Offensichtlich wird Hephaistos von seiner Gattin Aphrodite "gehörnt". Psychologisch gesehen heisst dies, dass das Prinzip der Exploration zugunsten desjenigen der Aggression vernachlässigt wird. Genau diese Vernachlässigung geschah aber den christlichen Kirchenvätern. Als sie die Gnostiker aus der Kirche ausstiessen, verwarfen sie gleichzeitig auch den individuellen Explorationstrieb. Bei den Gnostikern war dieser introvertiert auf eine Offenbarung der individuellen Gottheit gerichtet, denn sie versuchten durch eine introvertierte Exploration Gott zu erfahren und zu erkennen. Die Kirchenväter hingegen lehrten, dass Jesus Christus der Erste und Einzige gewesen sei, welcher eine solche Offenbarung erfahren habe. Mit dieser Aussage unterdrückten sie gleichzeitig den introvertierten Explorationstrieb, welchen die moderne Biologie immer mehr als einen der Urtriebe des Menschen akzeptiert. Hephaistos-Vulcanus wurde offensichtlich vernachlässigt. Gemäss dem griechischen Mythologem rächt dieser sich, indem er Aggression und Sexualität zusammenfesselt. Diese Vermischung der beiden Triebe scheint aber eines der grössten Probleme des Christentums darzustellen, welches in unserer Zeit einem bisher kaum für möglich gehaltenen Höhepunkt zustrebt. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die explosive Verbreitung von Hard-Porno-Filmen und an den Sado-Maso-Sex, sowie an die Tatsache, dass der kriminelle Tatbestand der Vergewaltigung in der letzten Zeit stark zugenommen hat.

Hephaistos-Vulcanus hat mit seinem unsichtbaren Netz Aphrodite-Venus und Ares-Mars zusammengefesselt. Zugleich ist er aber auch der einzige, welcher diese beiden wieder trennen kann. Er allein besitzt den Schlüssel zur Zweiteilung des melosinischen Ares-Mars des Paracelsus. Psychologisch gesehen bedeutet diese mythologisierende Aussage, dass nur die Exploration die Vermischung der beiden Triebe von Sexualität und Aggression rückgängig machen kann.

In seiner archaischen Form finden wir den Typus dieses Geschehens im Mythos des indianischen Tricksters, den Paul Radin (20) zum ersten mal veröffentlicht hat. Dieser indianische Narr kippt dauernd zwischen der Aggression und der Sexualität hin und her, und auch ihm geschieht deren Vermischung, bis ihm in der Umleitung eines Wasserfalles eine technische Erfindung gelingt, welche die vorläufige Lösung dieser Problematik darstellt. Der extravertierte Explorationstrieb hat sich damit im Trickster durchgesetzt, und die psychische Energie ergiesst sich aus der Sexualität und der Aggression in diesen ersteren.

In dieser archaischen Stufe der Umleitung der Libido befinden wir uns heute noch. Die westliche Welt, welche so ausserordentlich stolz auf ihre geistige Entwicklung ist, müsste als erstes einsehen, dass ihr extravertierter Innovationswahn einem äusserst archaischen Prinzip entspricht. Die extravertiert gelebte Exploration und die daraus abgeleitete Technik sind nämlich ebenso triebhaft, wie die Aggression und die Sexualität. Der so innovative westliche Mann ist deshalb dauernd in Gefahr, wieder in diese beiden Triebe oder in eine Vermischung derselben umzukippen, und er verfällt der sadistischen oder der masochistischen Sexualität.

 

 

4.2 Exploration und Meditation: Die Befreiung des Gottmenschen aus der Triebsphäre

Die erste Ahnung einer Lösung der Trickster-Problematik, das heisst der unbewussten und unkontrollierbaren Überleitung der psychischen Energie von einem Trieb der Triade in einen anderen, verdanken wir wieder Paracelsus. Der Begründer der modernen Medizin schlägt in seiner vita longa eine imaginatio vor (21), welche introvertiert und "jenseits von körperlicher und handwerklicher Arbeit" zu geschehen hat. In einer modernen psychologischen Terminologie heisst dies, dass die Trennung von Aggression und Sexualität nur durch eine Introversion der psychischen Energie im Explorationstrieb erreicht werden kann, womit zugleich das archetypische Prinzip der Meditation, das heisst, die introvertierte Exploration über die eigene Triebhaftigkeit aufgebaut wird. Aus der Antitrinität von Aggression, Exploration und Sexualität entwickelt sich derart das geistiges Prinzip der imaginatio oder der Meditation. Wir werden unten sehen, dass C.G. Jung am Ende des christlichen Aeons eben diese paracelsische Idee aufgegriffen und auf deren Grundlage seine introvertierte Methode der Aktiven Imagination (22) entwickelt hat.

Dieser erste Schritt der Befreiung des Gottmenschen aus der Triebsphäre, welcher zugleich dem Beginn des Aufbaus eines erneuerten oberen Gottesbildes entspricht, ist in den Abbildungen 4.6 und 4.7 dargestellt. Wir wollen diesen Prozess vorerst mit Hilfe der mythologisierenden Begriffe der paracelsischen Terminologie betrachten. Zudem fasse ich der Einfachheit halber die beiden unteren Trinitäten von Ares-Mars, Hephaistos-Vulcanus, Venus-Melusine einerseits und Sulphur, Mercurius, Sal andererseits zusammen. Es ergibt sich derart das folgende Schema (vgl. Abb. 4.6).

 

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Wenn wir die mythologisierenden Begriffe des Paracelsus durch die tiefenpsychologischen ersetzen, ergibt sich folgendes (vgl. Abb. 4.7):

 

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Dieses Schema besagt, dass durch die Introversion der Exploration die Antitrinität von Aggression, Exploration und Sexualität mit dem geistigen Prinzip der Meditation verbunden wird.

Damit ist zugleich auch der Zusammenhang der paracelsischen Prozedur mit dem im dritten Kapitel beschriebenen Prozess der Wandlung des Gottesbildes gegeben. Ich habe dort gezeigt, dass das Dritte des Geistarchetypus eine ambivalente Zweiheit darstellt. Da die Kirchenväter diesen vorbewussten Sachverhalt nicht anerkennen konnten, wurde der dunkle Aspekt dieses ambivalenten Geistes abgespalten. Dieser Prozess entspricht dem Absturz des himmlischen Gottmenschen (Anthropos) in die Materie bei den Gnostikern und dem in die Materie versunkenen König (oder der Königin) in der Alchemie, welcher aus der Gefangenschaft in dieser Materie befreit werden muss. Diesen Wiederaufstieg des Gottmenschen beschreibt das paracelsische Opus. Wie wir schon bei der Erläuterung des tikkun der Lurianischen Kabbala im ersten Kapitel gesehen haben, ist dabei das Mitwirken des Menschen von entscheidender Bedeutung.

In einer modernen tiefenpsychologischen Terminologie ausgedrückt, beginnt diese Erlösung Gottes aus der Materie offensichtlich damit, dass das dritte Prinzip der Exploration introvertiert und damit in jenes der Meditation gewandelt wird. Da dieses dritte Prinzip aus vorbewussten archetypischen Gründen eine ambivalente Zweiheit darstellt, ist es als Träger dieses Transformationsprozesses sehr gut geeignet. Der ambivalente Mercurius, das heisst die Zweiheit von extravertierter Exploration und introvertierter Meditation, bildet daher die Brücke zwischen der unteren Antitrinität und einer neu aufzubauenden Trinität. Diesen Tatbestand müssen die Alchemisten unbewusst geahnt haben, weshalb sie die Quintessenz, in welcher der ambivalente Mercurius das Zentrum bildet (vgl. Abb. 3.3), als das höchste aller erreichbaren Ziele beschrieben (23). Diese Quintessenz wird auch durch das Symbol der Lilie dargestellt (24), womit der paracelsische Prozess mit jenem des Mystikers Niklaus von Flüe verbunden wird. Mit diesem werden wir uns im fünften Kapitel beschäftigen.

Um unsere Untersuchung fortführen zu können, müssen wir nun vorerst den alchemistischen Begriff der Meditation etwas genauer untersuchen. Meditation ist heute zu einem Modewort geworden. Vor allem in Amerika spüren viele Wissenschafter, darunter vor allem Physiker, das Bedürfnis, die von ihrem Beruf geforderte intellektuelle Einseitigkeit durch meditative Erfahrungen zu kompensieren. Die entsprechenden Praktiken werden jedoch meist den östlichen mystischen Strömungen entlehnt, obwohl die okzidentale und christliche Welt ebensolche entwickelt hat.

In der Alchemie haben die Begriffe meditatio und imaginatio einen ganz bestimmten Inhalt, welcher in entscheidendem Mass von den aus anderen Kulturkreisen übernommenen Meditationstechniken abweicht. Da diese spezifische Art der Meditation auf christlichem Boden gewachsen ist, dürfte sie sich für den westlichen Menschen weit eher eignen, als die heute so in Mode gekommene Meditation östlicher Herkunft. Wir müssen uns deshalb den genauen Inhalt der alchemistischen Meditation etwas genauer ansehen.

In seinem Buch Psychologie und Alchemie hat sich C.G. Jung im Abschnitt Meditation und Imagination ausführlich mit dem Inhalt der alchemistischen Meditation beschäftigt (25). In dieser wird der Begriff Meditation für ein Zwiegespräch mit einer inneren Stimme verwendet, welche je nachdem Gott, einem guten Engel oder einem Aspekt seiner selbst gleichgesetzt wird. Mit diesem Zwiegespräch meinen die Alchemisten nicht etwa ein Nachdenken des Ich über sich selbst, also keine narzisstische Nabelschau und Ichbespiegelung, sondern eine lebendige Auseinandersetzung mit dem "ganz Anderen" im Menschen. Von entscheidender Bedeutung ist dabei, dass im alchemistischen Opus nicht etwa das Ich oder das Bewusstsein des Menschen diese Fähigkeit zur Imagination besitzt (26). Diese einmalige Fähigkeit stellt im Gegenteil eine Eigenschaft der "Seele" dar. Was aber ist denn diese "Seele"? Im anonymen Traktat De Sulphure (Vom Sulphur, das heisst, ein Traktat über die Eigenschaften des Schwefels, der seinerseits dem Ares-Mars und dem Feuer entspricht) wird ausgesagt, dass diese Seele an die Stelle Gottes trete. Dies bedeutet mit anderen Worten gesagt, dass sich der Alchemist in der Meditation auf ein inneres Gottesbild bezieht, welches ihm aufgrund seiner imaginativen Fähigkeiten Auskünfte erteilt, von denen das Bewusstsein bis anhin nicht die leiseste Ahnung hatte (27). Zudem wird die Offenbarungsfähigkeit eines göttlichen Wesens in jeden einzelnen Menschen hineingelegt - wie gesagt eine äusserst ketzerische Aussage.

Um unsere Untersuchungen forsetzen zu können, haben wir uns als nächstes nun zu fragen, an welcher Stelle des Körpers des empirischen Menschen diese mit göttlichen Offenbarungsfähigkeiten ausgestattete Seele sich befinden könnte. Der Autor des De Sulphure lokalisiert sie als einen Lebensgeist im Blut des Menschen. Von da her regiert diese Seele sowohl den Verstand als auch den Körper. Doch nicht genug damit: Diese im menschlichen Blut wohnende Seele regiert auch ausserhalb des Körpers, und gemäss Paracelsus bewirkt sie derart parapsychologische Phänomene wie Telepathie und Präkognition. Diese im menschlichen Körper lokalisierte göttliche Seele scheint damit auch hinter dem Prinzip der Synchronizität zu stehen, welches gemäss C.G. Jung zur Erklärung dieser parapsychologischen Phänomene benötigt wird.

Die Alchemisten nennen dieses im Menschen wirkende göttliche Prinzip der Offenbarungsfähigkeit auch die anima corporalis (28), die Körperseele, welche zwischen dem Bewusstsein und den physiologischen Körperfunktionen vermittelt. Wie ich in meinem oben erwähnten Buch Hat AIDS einen Sinn? gezeigt habe, entspricht sie bei Paracelsus dem Vulcanus-Hephaistos, den er auch Archaeus nennt. Dieser Archaeus stellt ein transformatorisches Prinzip dar, welches gemäss dem alchemistischen Arzt in der Gegend des Solarplexus zu lokalisieren ist.

Im Tantrismus, welchen C.G. Jung als einzige östliche Meditationsform akzeptiert hat, weil sie den Schatten und die Triebhaftigkeit nicht überspringt, entspricht diese Körperseele den drei unter dem Zwerchfell lokalisierten Chakras muladhara, svadhisthana und manipura. Diese gelten aber als der Sitz der Triebhaftigkeit, und es besteht eine grosse Wahrscheinlichkeit dafür, dass in diese drei Chakras der Explorations-, der Sexual- und der Aggressionstrieb projiziert werden (29). Die mit einer imaginativen Offenbarungsqualität ausgestattete Seele der Alchemisten, welche an die Stelle des christlichen Gottes tritt, sitzt offenbar in der Triebtriade von Aggression, Exploration und Sexualität - ein starkes Stück für einen gläubigen Christen...!

Wir können also schliessen, dass das Bestreben des Alchemisten offensichtlich dahin geht, durch eine Auseinandersetzung mit dem Geist - oder eben mit der Seele - dieser Triebtriade neues Wissen aus dem kollektiven Unbewussten zu befreien und an sein Bewusstsein anzuschliessen, womit dieses gleichzeitig erweitert wird. Die von Paracelsus erahnte psychische Struktur des unteren Gottesbildes bildet dabei die Voraussetzung für die Überleitung der Energie sowohl in den Bereich des Bewusstseins als auch in jenen des oberen Teils des erneuerten Gottesbildes.

Ich betrachte diese Art der Meditation, welche C.G. Jung in seiner Aktiven Imagination wiederentdeckt hat, als einen der erfolgversprechendsten Auswege aus dem Dilemma der heutigen endchristlichen Zeit. In nicht allzuferner Zukunft wird die Menschheit infolge der nahenden Umweltkatastrophe ihren extravertierten Mobilitätswahn gezwungenermassen aufgeben müssen, wenn sie nicht in ihrer Gesamtheit ausgerottet werden will. Wir Mobilitätssüchtige werden dann weit weniger die Möglichkeit haben, unsere Getriebenheit extravertiert und unbewusst auszuleben. Sollte sich diese Zukunftsvision verwirklichen, wird jeder von uns sich mit seiner Triebhaftigkeit introvertiert auseinandersetzen müssen. Tut er dies nicht, wird er mit grösster Wahrscheinlichkeit in eine tiefe Depression versinken. Auch die um sich greifende Arbeitslosigkeit wirkt in einer ähnlichen Richtung. Sie könnte den Sinn haben, dass wir gezwungen werden, aus unserer triebhaften Arbeitswut auszusteigen und die psychische Energie mit Hilfe der Aktiven Imagination in die Introversion umzulenken, "jenseits von körperlicher und handwerklicher Arbeit", wie Paracelsus sich ausdrückt. In dieser bewussten Entscheidung, die Identifikation mit dem Trickster-Archetypus aufzuheben und mit Hilfe der Aktiven Imagination C.G. Jungs in ein neues Zeitalter der Mystik hineinzufinden, besteht meines Erachtens der einzige Ausweg aus der Sinn- und Hoffnungslosigkeit unserer endchristlichen Zeit.

Doch kehren wir zu Paracelsus zurück. Wie wir gesehen haben, bildete sich in seinem Unbewussten eine triebhafte Antitrinität aus. Das dritte Prinzip derselben, der Vulcanus-Hephaistos erscheint als Archaeus in der Magengegend. Es scheint somit etwas mit dem Hungertrieb zu tun zu haben.

Wie wir oben gesehen haben, besteht zwischen dem Hunger und der Exploration ein enger Zusammenhang: Als Folge der Quantensprungs von der Jäger- und Sammlerkultur zur Ackerbaukultur wurde ein grosser Teil der im Hungertrieb gefangenen Energie befreit und konnte so in den Explorationstrieb fliessen. Die ersten grossen Erfindungen der Menschheit geschahen daher bei diesem Kultursprung. Wie ich im ersten Kapitel ausgeführt habe, war am Beginn des christlichen Zeitalters ein weiterer Quantensprung konstelliert: Die christlichen Gnostiker versuchten eben diesen Schritt der Introversion der psychischen Energie im Explorationstrieb, um derart individuelle Offenbarungen über das Gottesbild zu erhalten. Als die Kirchenväter die Gnostiker aus der Kirche ausstiessen, unterdrückten sie gleichzeitig die introvertierte Exploration, die Imagination über das Gottesbild. Von nun an war es daher verboten, aus einer individuellen introvertierten Haltung heraus persönliche Aussagen über das Gottesbild zu machen.

Die dogmatische Haltung der Väter bewirkte also eine Verdrängung der introvertierten Exploration aus dem Kollektivbewusstsein des Christentums. Diese Unterdrückung liess sich zwar für einige Jahrhunderte aufrechterhalten und mit den Machtmitteln der Kirche durchsetzen, doch erschien die Exploration in ihrer extravertiert-triebhaften Form plötzlich wieder: Zum ersten mal in den Kreuzzügen und dann ein weiteres mal kurz vor dem Geburtsjahr des Paracelsus in den Entdeckungsfahrten des Christoph Kolumbus. In einer eigentlichen triebhaften Explorationsorgie machte sich das Christentum auf, die Welt zu entdecken und die archaischen Kulturen zu zerstören. Der aus der Introversion verdrängte Explorationstrieb setzte sich damit extravertiert und mit den entsprechenden destruktiven Folgen durch.

Ein ähnliches Geschehen spielte sich auch in Paracelsus ab. Wir wissen aus seinem Leben, dass er in einer ruhelosen Getriebenheit durch ganz Europa reiste. Er lebte somit die Exploration ebenfalls extravertiert, und zwar weil er über deren introvertierte Ausprägung dank der Dogmatik der Kirchenväter unbewusst war. Doch lässt sich bei ihm ein dauerndes Umkippen der Exploration in die Introversion nachweisen, in welcher er dann seine genialen schöpferischen Ideen entwickelte und seine vielen Bücher schrieb. Eine dieser Zentralideen seines Werks bestand in der Beschreibung des Prozesses der Introversion der Exploration. Doch dürfte er nie völlig darüber bewusst geworden sein, dass diese Introversion eine Aufgabe gewesen wäre, welche er mit grösster Anstrengung hätte verwirklichen müssen. Seinem Landsmann, dem Schweizer Mystiker Niklaus von Flüe, über welchen wir im nächsten Kapitel näheres erfahren werden, scheint diese totale Introversion des Explorationstriebes hingegen gelungen zu sein.

Die Verdrängung eines konstellierten Archetypus führt gemäss C.G. Jung im Prozess der so genannten Enantiodromie, des Umschlags in das Gegenteil, meist in eine anschliessende Identifikation des Bewusstseins mit diesem Archetypus. Tatsächlich lässt sich diese Enantiodromie in der modernen Wissenschaft nachweisen: Das Bewusstsein ihrer Vertreter identifiziert sich mit der extravertierten Form des Explorationstriebes. Damit ist es einerseits nicht in der Lage, den Schritt in die Introversion zu vollziehen und andererseits findet keine Ausdifferenzierung der Triebhaftigkeit in eine Antitrinität statt. Aus diesem Grund fällt auch die Wissenschaft nach Paracelsus wieder hinter die erste Stufe seines Opus zurück und regrediert in eine Vermischung von Sexualität und Aggression, von Zeugung und Vernichtung. Der "kosmische Tanz der Materie" der Physiker, aber auch Eros und Thanatos Sigmund Freuds lassen grüssen!

Da in der Wissenschaft kein Bewusstwerdungsprozess über die Identifikation mit dem extravertierten Explorationstrieb stattgefunden hat, setzte sich dieser Prozess mit der Folgerichtigkeit vorbewusst-archetypischen Geschehens an einem allerdings unerwarteten Ort durch: Wir werden im sechsten Kapitel sehen, dass die Erkenntnisse der Elementarteilchen- und Quantenphysik eben auf diesem Prinzip der aggressiven Zeugung neuer Elementarteilchen - des melosinischen Ares-Mars des Paracelsus! - beruhen. Damit erhalten wir einen weiteren Hinweis darauf, dass die Physik am Ende des christlichen Zeitalters unbewusst an den Beginn des archetypischen Geschehens der Gotteswandlung zurückgekehrt ist. Gott ist offenbar in die Materie der Physiker abgestürzt - und aus eben dieser wird er erlöst werden müssen.

 

 

4.3 Die Transformation der Aggression

Paracelsus beschreibt also die erste Stufe seiner Prozedur der Erneuerung des Gottesbildes als eine Introversion der Exploration, wodurch das Prinzip der Meditation aufgebaut wird. Diese Introversion symbolisiert er folgendermassen: Die anima iliastri - die Seele des Sulphur und Iliaster, psychologisch gesehen die psychische Energie in diesem Konglomerat von Aggression und Exploration - muss in die Herzgegend zurückgebracht werden (30), nachdem sie ausgebrochen ist. Natürlich beschreibt hier Paracelsus aus eigener Erfahrung die Geschehnisse seiner Wutausbrüche und deren Folgen. Die Konsequenz besteht für ihn darin, die Aggression introvertiert zu verarbeiten. Derart wird die bisher leidensunfähige Seele leidensfähig. Damit sie in der Herzgegend zurückgehalten werden kann, darf ihr die "Luft" nicht fehlen.

Ich werde im fünften Kapitel zeigen, dass das Herz ein Symbol der Introversion an sich darstellt, und dass diese "Luft" den flüchtigen Gedanken und Gefühlen meist negativer Art entspricht, die sich hinter der Triebhaftigkeit und der Getriebenheit verstecken.

Die Tantriker symbolisieren diese subliminalen Gedanken und Gefühle treffend als Gazelle, und diese gehört zum anahata, dem vierten tantrischen Chakra in der Herzgegend (vgl. Abb. 5.5). Um solchen blitzschnell erscheinenden und wieder verschwindenden negativen Gedanken und Gefühlen habhaft zu werden, muss man sich tatsächlich in einem tiefen Introversionszustand befinden. Die Introversion der Exploration und die derart eingeleitete introvertierte Beschäftigung mit den Äusserungen der Triebtriade wird uns deshalb in der symbolischen Aussage "Die Lanze sticht in das Herz" im fünften Kapitel noch intensiv beschäftigen. An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass derart die imaginatio des Paracelsus sowohl mit den Visionen des christlichen Mystikers Niklaus von Flüe als auch mit dem Tantrismus und Sufismus verbunden wird.

Mit dem Einbezug des Iliaster, des Sulphur, des Ares-Mars oder der Aggression sind wir bereits bei der zweiten Stufe der paracelsischen Prozedur angelangt. Diese besteht in der Reinigung dieses feurigen Prinzips, nachdem es vom wässerigen der Venus-Melusine getrennt worden ist. Auch diese Reinigung geschieht mit Hilfe der introvertierten Meditation. Da Paracelsus über den dritten Grundtrieb der Exploration noch weitgehend unbewusst ist, vermischt sich dieser immer wieder mit der Aggression. Diese Vermischung ist jedoch kein individuelles Problem des Paracelsus, sondern ein Grundproblem des Christentums überhaupt, da die (introvertierte) Exploration, wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, durch die Kirchenväter unterbunden wurde. Alchemistisch ausgedrückt bedeutet dies eine Vermischung von Mercurius und Sulphur, die tatsächlich manchmal zum Verwechseln ähnlich sind.

Sulphur, das Prinzip der explorativen Aggression, äussert sich deshalb im unbewussten Fall als eine extreme Getriebenheit, wie C.G. Jung ausführlich darlegt (31). Durch die erste Stufe der Introversion der Exploration und deren Umwandlung in das geistige Prinzip der alchemistischen Meditation wird nun jedoch die Aggression von der Exploration getrennt. Diese Trennung erfolgt, weil die Exploration in der Meditation introvertiert und vergeistigt wird. Mit Hilfe dieser introvertierten Meditation im alchemistischen Sinne kann nun Ares-Mars, der Iliaster oder Sulphur transformiert werden. Diese Veredelung scheint auch wieder darin zu bestehen, dass dieses feurige Prinzip aus der Materie oder der Triebhaftigkeit des menschlichen Körpers befreit und in eine geistige Sphäre hinaufgehoben wird. Wir haben uns deshalb zu fragen, in welches geistig-archetypische Prinzip dieser Sulphur gewandelt werden soll.

Paracelsus konnte die psychologische Bedeutung dieses neuen geistigen Prinzips noch nicht erfassen. Er umschreibt das Produkt dieser Veredelung deshalb in einer mythologischen Terminologie und nennt es die Essenz des gereinigten Feuers (32), welche er auch dem von ihm so genannten siderischen Balsam gleichsetzt (33). Dieser Balsam bildet in der Phantasiewelt der Alchemisten das Wirkungsprinzip der ägyptischen Mumifizierung (34) und verhilft zum "ewigen Leben" (vgl. Abb. 4.8).

 

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Wenn wir diesen Balsam mit dem ursprünglichen Feuer des Iliaster und des Ares-Mars vergleichen, so fällt auf, dass dieser aus dem toten Körper - aus der Mumie, deren Reste im Mittelalter tatsächlich als Heilmittel verwendet wurden - gewonnen wird. Psychologisch gesehen heisst dies einerseits eine Introversion der Aggression, indem auf deren unbewusstes Ausleben verzichtet wird, andererseits aber auch eine Stilllegung des Körpers. Paracelsus gibt uns hier einen wichtigen Hinweis für die heute in Mode gekommenen Körpertherapien: Nur durch eine "Mumifizierung", das heisst durch eine bewusste Stilllegung des triebhaft erregten Körpers, kann diese Triebhaftigkeit in ein geistiges Prinzip transformiert werden.

Die wenigsten der modernen Körpertherapien halten sich allerdings an diese Grundregel jeder westlichen und östlichen Meditationsmethode. Körperliche Bewegung ersetzt daher in konkretisierender Manier die gefühlsmässige Bewegtheit. Statt dass sie die Analyse und Integration des Schattens (C.G. Jung) mit der Hilfe einer introvertierten Bewegtheit unterstützten, fördern die Vertreter solcher Therapien dessen unbewusstes Ausleben. Opfer dieser sogenannten Therapien, die nichts anderes als ein schamloses Ausleben des Machtschattens darstellen, sind - wie schon bei der christlichen Inquisition - wieder einmal die Schwachen, das heisst in diesem Fall die Klientinnen und Klienten solcher selbsternannter Gurus.

Um das Prinzip dieses gewandelten und gereinigten Sulphur, der Essenz oder des Balsams, zu verstehen, müssen wir uns der etymologischen Ableitung des deutschen Wortes "Wut" (Aggression!) zuwenden. Dieses geht auf den Sanskrit-Wortstamm "vat" zurück, welcher soviel wie "verstehen", "begreifen", "erkennen" bedeutet (35). Im Sinne von "Wuot" = Raserei gab es auch dem germanischen Wotan (Wuotan) (36) seinen Namen. Auf diesen zentralen germanischen Archetypus werde ich im fünften Kapitel zurückkommen.

Eine andere Etymologie bringt "Wut" mit dem lateinischen "vates" zusammen, was "Dichter", "Wahrsager", "Seher" und "Prophet" bedeutet (37). Daraus erschliesst sich uns nun der Sinn der von Paracelsus angestrebten Transformation: Die Raserei (Wahnsinn!) der kollektiven Aggression soll offensichtlich in Erkenntnis, das heisst aber in das Prinzip des schöpferischen Logos umgewandelt werden. C.G. Jung meint deshalb (38): "Ares erscheint...als ein intuitiver Anschauungsbegriff einer vorbewussten, schöpferischen Gestaltungskraft".

Da Paracelsus eine äusserst schöpferische Natur war, liegt es nahe, dass die von ihm vorgeschlagene Prozedur in ihm selbst das Prinzip des schöpferischen Logos aus dem triebhaften Konglomerat von Aggression und Exploration entwickelte. Da dieses Prinzip sich in ihm in einer eminent introvertierten Prozedur aufbaute, resultierten daraus nicht etwa neue äussere Entdeckungen, sondern gewisse Erkenntnisse über die innere psychische Struktur des Menschen. Damit ist dem alchemistischen Arzt aber nichts weniger gelungen, als das absolute und vorbewusste Wissen des kollektiven Unbewussten in eine bewusste Erkenntnis umzuwanden, welche bei ihm allerdings noch mythologisch verschleiert ist. Diese Transformation entspricht deshalb auch dem Prozess des Aufbaus des Prinzips des schöpferischen Logos an sich.

Jeder schöpferische Mensch kennt den eigenartigen Zustand zu Beginn einer kreativen Phase, in welcher die Raserei (Getriebenheit!) sich in den Logos transformieren will. Man ist "geladen", aggressiv, getrieben, euphorisch, chaotisch, begeistert. Neue Ideen sausen wie Blitze durch den Kopf oder manchmal auch durch den ganzen Körper. Mit unglaublicher Geschwindigkeit purzeln sie daraus heraus, und man ist nicht mehr fähig, diese Gedanken mit Hilfe eines diskursiven Denkens in einen einigermassen logischen Ablauf zu bringen. Man muss deshalb alles einfach einmal herauskotzen, sofern man keinen Brechreiz oder Durchfall riskieren will. Ein dionysisches Erlebnis!

Es ist denn auch das Mythologem der Zeugung und der doppelten Geburt des Dionysos (39), des Sohnes der Semele und des Zeus, welches den Prozess der Transformation in den schöpferischen Logos in einer archaischen Sprache beschreibt. Als Stier, Löwe und Leopard schwängert der Göttervater Semele. Der derart gezeugte Dionysos tanzt im Schoss seiner Mutter, was auch diese zu rasenden Tänzen veranlasst. Die eifersüchtige Hera überredet Semele, Zeus darum zu bitten, in seiner Urform zu ihr zu kommen. Der Göttervater kommt als ein Gewitter von Blitzen über sie. Semele verbrennt in wahnsinniger Erregung. Im brennenden Schoss seiner Mutter tanzt der unversehrte Dionysos. Mercurius (!) befreit ihn und näht ihn bis zur Geburt in den Oberschenkel des Zeus ein. Derart wird Dionysos zweimal geboren: Aus der Natur und aus dem Geist, aus der Mutter und aus dem Vater.

Die Aggression - oder besser die Vermischung von Aggression und Sexualität, der melosinische Ares des Paracelsus - wird in diesem Mythologem gleich zwei mal betont: Zeus kommt als Stier, Löwe oder Leopard und als Blitz über Semele. In der Introversion (Dionysos im Uterus!) wandelt sich diese Aggression in den wilden Tanz, eine erste Veredelungsform der aggressiven Getriebenheit. Im Schenkel des Zeus findet dann die Wandlung des dionysischen in das geistige Prinzip des Logos statt. Der Schenkel gilt nämlich als der Ort der (geistigen) Zeugung (40).

Wie wir im sechsten Kapitel sehen werden, schlagen die Motive des Blitzes und des Tanzes eine Brücke vom Dionysos-Mythos zur Elementarteilchen- und Quantenphysik. Auch dort führen nämlich "Blitze", das heisst energiereiche Strahlen, welche durch die "Aggression" der Kollision neue Elementarteilchen erzeugen, zum "kosmischen Tanz der Materie" (Kenneth Ford). Wir können deshalb hier schon vermuten, dass die Physik auch diese zweite Stufe des paracelsischen Opus, den Prozess der Transformation der Aggression in den Logos, in der Materie wiederfindet.

Mit Hilfe der obigen Ausführungen sind wir nun in der Lage, diese zweite Stufe des paracelsischen Opus in eine psychologische Sprache zu übersetzen. Sie scheint offensichtlich darin zu bestehen, aus dem triebhaften Konglomerat von Aggression und Exploration (und Sexualität) ein neues geistiges Prinzip zu schaffen, das Prinzip des Logos. Wir können unser Schema somit ergänzen (vgl. Abb. 4.9):

 

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Dieses Schema sagt im Wesentlichen, dass durch eine introvertierte Meditation über Aggression und Exploration auf der oberen geistigen Ebene das Prinzip des Logos aufgebaut wird. Natürlich wird derart auch das Prinzip der Meditation immer weiter ausgebaut, da ihre Anwendung deren Methodik immer mehr verbessert. Durch die Meditation über die Aggression und die Exploration entwickelt sich aus der Triebsphäre heraus ein weiteres Prinzip des erneuerten oberen Gottesbildes, wobei das menschliche Bewusstsein in wesentlichem Mass daran beteiligt ist. Natürlich sind wir auch hier wieder an die Bestrebungen der alten Ägypter, der Gnostiker und der Lurianischen Kabbala erinnert, in welchen dank menschlichem Bemühen aus der Triebsphäre heraus ein erneuertes Prinzip des göttlichen Geistes aufgebaut werden soll. In einer modernen tiefenpsychologischen Sprache bezeichnen wir dieses Geschehen als Aktive Imagination über die Inhalte der triebhaft-aggressiven und -explorativen Strebungen.

 

 

4.4 Die Transformation der Sexualität

Das dritte obere und damit geistig-archetypische Prinzip ist vorläufig noch mit einem Fragezeichen versehen. Ich muss gleich hier bemerken, dass Paracelsus der Aufbau dieses Prinzipes nicht gelang, obwohl er sogar noch eine vierte Stufe seines Opus beschreibt. Um dieses Prinzip zu verstehen, werden wir uns im nächsten Kapitel dem Schweizer Mystiker Niklaus von Flüe zuwenden müssen. Hier will ich jedoch noch kurz auf diese beiden folgenden Stufen des Paracelsus eingehen.

In der dritten Stufe des paracelsischen Opus wird die Reinigung und die Veredelung der Venus-Melusine angestrebt. Wie wir schon gesehen haben, gehört diese zum Prinzip des Aquasters, welches weiblich, wässerig, passiv und äusserst flüchtig vorgestellt wird. Diese Stufe des Opus soll im Monat Mai beginnen, dem Monat der Gottesmutter Maria einerseits, der heidnischen Venus-Aphrodite andererseits. Aus solchen Andeutungen in der De vita longa ersehen wir, welchen Veredelungsprozess Paracelsus im Sinne hat: Ihm schwebt eine Wandlung der Sexualität aus dem Bereich des Triebhaften in die geistig-archetypische Welt des Eros vor. Ich verstehe dabei den Eros in Übereinstimmung mit C.G. Jung in seinem ursprünglichen Sinn als das Prinzip der gefühlsmässigen Bezogenheit auf die Mitmenschen.

 

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Diese Wandlung der triebhaften Sexualität in den Eros hat Paracelsus eindeutig nicht geschafft, obwohl er versucht, die gesta melosynes, das heisst sexuelle Phantasien, "ins Wasserreich zurückzuweisen", was psychologisch gesehen einer introvertierten Verarbeitung dieser Phantasien entspricht (41). Wir haben uns deshalb die Frage nach den Gründen dieses Unvermögens zu stellen.

Um diese Frage beantworten zu können, muss ich dem Inhalt der noch folgenden Ausführungen etwas vorgreifen. Der erste Grund für das Unvermögen des Paracelsus liegt darin, dass er zwar die Methodik der dritten Stufe seines Opus theoretisch beschreiben, aber nicht in sein empirisches Leben einbauen konnte. Da Venus-Aphrodite und die Melusine ein passives Wesen besitzen, setzt deren Erfahrbarkeit eine passiv-rezeptive Haltung des Bewusstseins voraus. In diese Haltung fand Paracelsus nur in ganz seltenen Momenten hinein. Dies wiederum hat seinen Grund darin, dass es ihm nicht gelang, seine triebhaft-extravertierte Exploration in einem bewussten Akt zu introvertieren. Diese Introversion der Exploration ist nämlich für die Annäherung an dieses zutiefst weiblich-archetypische Prinzip des Aquasters noch in viel höherem Masse notwendig, als für die Transformation des Iliasters. Zudem führt diese dritte Stufe des Opus meist in ein tiefes Leiden hinein, und bekanntlich rennen wir Männer vor nichts so sehr davon, wie vor dem bewusst gelebten Leiden.

Die dritte Stufe des paracelsischen Opus beschreibt tiefenpsychologisch gesehen die Aktive Imagination über sexuelle Phantasien. Bevor der heutige Mann sich mit diesen auseinandersetzt, sollte er unbedingt seine Launen, Affekte und Emotionen bearbeiten. Diese gehören zum Bereich des persönlichen Unbewussten, welches üblicherweise in das Bewusstsein integriert werden muss, bevor man in die Triebwelt und in die Sexualität hinuntersteigt. Erst wenn ein Mann gelernt hat, an den Auswirkungen seiner Launen auf die Mitmenschen zu leiden, hat er in sich ein gewisses Minimum an Eros entwickelt, welches ihm erlaubt, die furchtbaren Auswirkungen der kollektiv gelebten Sexualität überhaupt gefühlsmässig zu erfassen. Findet dieser Prozess der Integration der negativen Gefühlswelt des Mannes in sein Bewusstsein nicht statt, besteht die grosse Gefahr, dass dieser der Sexualmagie - oder auch sonst einer Form der schwarzen Magie - verfällt. Mir scheint, dass einige der heutigen gruppentherapeutischen und körperorientierten Verfahren in Gefahr sind, in diese Welt der sexuellen Schwarzmagie zu regredieren.

Wenn wir den trinitarischen Aspekt einer Triade betonen wollen, stellen wir diese geometrisch als gleichseitiges Dreieck dar. Die Ambivalenz zweier solcher Triaden kann durch ihre Spiegelbildlichkeit veranschaulicht werden. Es ergibt sich dann als Resultat das schon in Abb. 3.2 dargestellte Siegel Salomos, welches von den Alchemisten sowohl als Symbol des Opus als auch von dessen Ziel verwendet wurde. Während dort die obere Trinität der christlichen von Gottvater, Gottsohn und Heiligem Geist entspricht, ist sie nun ersetzt durch jene des erneuerten Gottesbildes, durch die Trinität von Logos, Meditation und Eros (vgl. Abb. 4.11). Durch den bewussten Aufbau eines erneuerten oberen Gottesbildes wird somit auch der unbewusste Konflikt der Alchemisten zwischen ihrem christlichen Gottesbild und der heidnischen Triebsphäre gelöst.

 

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4.5 Die Vereinigung von Logos und Eros im hermaphroditischen Gottmenschen

Die vierte Stufe des paracelsischen Opus besteht schliesslich darin, die beiden aus der Meditation im geistig-archetypischen Bereich aufgebauten Prinzipien des Logos und des Eros zum Adech, das heisst zum "grösseren inneren Menschen", zum doppelgeschlechtlichen Anthropos - genauer gesagt: zu dessen oberem Teil - zu vereinigen. In der Terminologie des Paracelsus ist derart aus dem physischen und gewöhnlichen menschlichen Leib der "Astralleib" aufgebaut worden. Und dieser Astralleib garantiert die vita longa, das lange Leben im Diesseits und die Unsterblichkeit im Jenseits.

Das von Paracelsus angestrebte Ziel des alchemistischen Opus besteht offensichtlich darin, aus der Triebsphäre heraus den mann-weiblichen Gottmenschen in sich selbst zu erlösen. Wir werden im sechsten Kapitel sehen, dass ein Traum und eine Aktive Imagination des Physikers und Nobelpreisträgers Wolfgang Pauli zeigen, dass auch er dieses Problem hätte anpacken müssen, und dass dessen Lösung darin bestanden hätte, dass er in das von mir so genannte synchronistische Leben hineingefunden hätte. Die Vereinigung von Frau und Mann, von Innen und Aussen, der als Ziel des Opus hergestellte göttliche Hermaphrodit oder Androgyn, symbolisiert nämlich nichts weniger, als das bewusst gelebte Prinzip der Synchronizität.

Wir erinnern uns, dass auch die prima materia, die Ausgangssubstanz des alchemistischen Opus, vorerst einmal als Hermaphroditus dargestellt wird. Dieser muss in einem ersten Schritt in seine Bestandteile, in den Iliaster und den Aquaster, in Sulphur und Sal oder in Ares-Mars und Aphrodite-Venus (bzw. die Melusine) zerlegt werden. Nun sollen offensichtlich die vergeistigten Aspekte dieser Komponenten zu einem neuen oberen mannweiblichen Prinzip vereinigt werden. Wie erwähnt, wird sich diese Symbolik in der nächsten Zukunft in einem verstärkten Hang zur Bisexualität konkretisieren, wenn dieser tiefeste Sinn des alchemistischen Opus nicht psychologisch verstanden und als Individuationsprozess bewusst erlebt wird.

Die mythologisierende Ausdrucksweise des Paracelsus zeigt wieder, dass er noch nicht verstehen konnte, welchen Prozess er hier eigentlich beschreibt. Deshalb geistern seit dieser Zeit magische Ideen über diesen Astralleib in der Welt umher, deren gemeinsames Merkmal darin besteht, dass diese den tiefenpsychologisch letztlich nicht verstandenen Prozess des Aufbaus eines erneuerten oberen Gottesbildes aus der Triebsphäre in unverständliche, geheime, geheimnisvolle und mystifizierende Worte kleiden, von denen niemand so recht weiss, was sie eigentlich bedeuten sollen und welche konkreten Prozesse sie darstellen. Erst C.G. Jung hat uns mit seiner psychologischen Betrachtungsweise ein Mittel in die Hand gegeben, um diesen Prozess im einzelnen Menschen empirisch zu vollziehen und zudem verstehen zu können.

Wie ich oben kurz angedeutet habe, zeigt die tiefenpsychologische Symbolik hinter den Erkenntnisinstrumenten der Elementarteilchen- und Quantenphysik einerseits und ihrern Resultaten andererseits, dass diese letztlich auf einer höheren Stufe der wissenschaftlichen Erkenntnis zum Opus der Alchemie zurückgekehrt ist. Da aber auch in ihr dieses Geschehen unbewusst verläuft, und sie daher die vom kollektiven Unbewussten dringend geforderte Lösung des Problemes der Gotteswandlung bewusst nicht wahrnehmen kann, wird dieses Opus in eine vermeintlich unbelebte Materie projiziert. Derart finden die Elementarteilchen- und Hochenergiephysiker (Neue Physik) in der Materie Strukturen und Prozesse, die den introvertiert geschauten Visionen der Alchemisten und des Niklaus von Flüe, aber auch jenen der buddhistischen und hinduistischen Tantristen und der muslimischen Sufis in auffallender Weise gleichen.

Die Untersuchung der Wandlung des Gottesbildes muss daher die neueren Entwicklungen der subatomaren Physik mit einbeziehen. Da sie auf einer höheren Stufe den - allerdings in die Materie projizierten - Transformationsprozess des Paracelsus beschreibt, der auch hinter jenem der Tiefenpsychologie steht, kann eine Untersuchung der Symbolik der von der Quantenphysik gefundenen Strukturen, Erhaltungssätze und zulässigen Prozesse wesentliche neue Erkenntnisse über den introvertierten Prozess der Gotteswandlung in jedem einzelnen Menschen vermitteln.

Ich werde daher im sechsten Kapitel auf einige tiefenpsychologische Hintergründe der Elementarteilchen- und Quantenphysik näher eingehen. An dieser Stelle sei lediglich erwähnt, dass die Lösung des in diesem Abschnitt geschilderten Problems des Aufbaus des paracelsischen Astralleibes über die Möglichkeiten der Physik hinausreicht. Sie wird von einer neuen Wissenschaft gesucht werden müssen, welche die Erkenntnisse der Tiefenpsychologie mit jenen der Quantenphysik vereinigt. Den Schlüsselbegriff wird diese Zukunftswissenschaft in der von der Physik so genannten "negativen Energie" finden. Wie ich an anderem Ort ausgeführt habe (42), stellt diese letztlich den Pferdefuss der neuen Physik dar, da ihre seltsame Transformation in Antimaterie auf einer metaphysischen Hypothese beruht. Um das Wesen der Antimaterie erklären zu können, musste Paul Dirac, ein Mitbegründer der Quantentheorie, nämlich auf eine für einen Physiker geradezu abenteuerliche Hypothese zurückgreifen: Diese Teilchen der Antimaterie sollen aus einem "Meer" unendlich vieler, physikalisch aber unbeobachtbarer Elektronen mit negativer Energie entstehen. Diese Unbeobachtbarkeit siedelt das Dirac'sche Postulat aber im Bereich der Metaphysik an. Es wird die zentrale Aufgabe der oben erwähnten neuen Wissenschaft sein, diese metaphysische Grundlage der Physik durch eine empirische zu ersetzen.

 

 

1. Stufe:

 Die Exploration wird als dritter Grundtrieb neben der Aggression und der Sexualität anerkannt. Die heute noch meist extravertiert-triebhaft gelebte Exploration wird in die Introversion umgeleitet, womit als erstes oberes Prinzip jenes der Meditation (Aktive Imagination) entsteht.

 

2. Stufe:

 Die aggressive Getriebenheit des westlichen Menschen wird introvertiert. Über eine Meditation bezüglich dieser explorativen Aggression wird das zweite Prinzip des Logos (Erkenntnis) aufgebaut.

 

3. Stufe:

Ebenso wird die explorative Sexualität introvertiert. Die diesbezügliche Meditation - sie ist viel schwieriger als jene der zweiten Stufe, da sie eine passiv-rezeptive Haltung des Bewusstseins voraussetzt - baut das dritte obere Prinzip des Eros (Beziehungsfähigkeit) auf.

 

4. Stufe:

Zum Schluss wird aus der Vereinigung von Logos und Eros der hermaphroditische Gottmensch mit seinem "Astral- und Unsterblichkeitsleib" aufgebaut. Wie diese mythologisierende Terminologie zeigt, bleibt die Deutung dieser vierten Stufe einer Wissenschaft der Zukunft vorbehalten, welche die Erkenntnisse der Tiefenpsychologie mit jenen der Quantenphysik vereinigt hat.

Übersicht 4.1:

Die vier Stufen des paracelsischen Opus in einer tiefenpsychologischen Terminologie

 

 

4.6 Die Aktive Imagination und der alchemistische Pelikan

4.6.1 Psychische Voraussetzungen der Aktiven Imagination

Auf dem von Paracelsus beschriebenen seelischen Prozess fussend, hat C.G. Jung eine introvertierte dialektische Methode entwickelt, die im obigen schon mehrfach erwähnte Aktive Imagination (43). Sie beruht auf seiner Komplextheorie, das heisst auf der empirisch beobachtbaren Tatsache, dass die Totalität von bewusster und unbewusster Psyche etwa wie ein aus vielen Teilen zusammengesetztes Mosaik aussieht. Dabei sind diese Teile nur ganz lose miteinander verbunden und besitzen eine Eigendynamik. In einer ersten Phase der Aktiven Imagination setzt sich das Ich mit diesen möglichst personifizierten Komplexen auseinander, welche sich meist hinter nur halbbewussten unangenehmen Gefühlen, Affekten und Verstimmungen verbergen. Derart kann der westliche Mann (44) sich seinen verdrängten Gefühlen und der Welt des Eros wieder annähern. Die imaginatio C.G. Jungs bildet denn auch eine einzigartige Hilfe zur Integration der weiblichen Seite des Mannes, der Anima.

Die Aktive Imagination erfordert das Vorhandensein eines gewissen Masses an Dialektik, welche Komplexe, Verstimmungen und Affekte vom Ich abtrennt. Sie setzt offensichtlich ein gewisses Minimum des Logos-Prinzipes voraus.

Aber auch ein Minimum an Eros wird benötigt, um aus dem trennenden und gleichzeitig die negativen Aspekte verdrängenden Logos-Bewusstsein des westlichen Mannes abzublenden und sich derart introvertiert und mit einem gewissen Verständnis auf seine Komplexe, Schattenaspekte und Verstimmungen beziehen zu können. Erst dieses Abblenden aus dem Logos-Bewusstsein bewirkt, dass die bisher ins persönliche Unbewusste verdrängten oder die Inhalte des kollektiven Unbewussten an die Grenze zum Bewusstsein gelangen und von diesem wahrgenommen werden können.

Da der Beziehungsaspekt des Eros die Annäherung an die Schattenaspekte ermöglicht, der dialektische des Logos gleichzeitig aber beibehalten wird, kann aus diesem Zustand heraus ein Schauspiel auf der innerseelischen Bühne entwickelt werden, welches den Bewusstwerdungsprozess sehr beschleunigen kann. Infolge ihres Doppelaspektes von Logos (Dialektik) und Eros (Abblenden und Einfühlen) stellt die Aktive Imagination an den Menschen höchste Ansprüche und kann meist nur über die lange Zeitspanne von Jahren gelernt werden.

Diese Vereinigung von Eros und Logos mit der Hilfe der Meditation (imaginatio) entspricht, wie oben erwähnt, dem Ziel des alchemistischen Opus, der Herstellung des hermaphroditischen Anthropos. Der Paracelsus-Schüler Gerhard Dorn geht nun noch einen Schritt weiter, indem er das Resultat in der typischen mythologisierenden Sprache der Alchemisten folgendermassen beschreibt (45): Nachdem der Stein (lapis) - ein Synonym des Adech des Paracelsus, des Astralleibes und des hermaphroditischen Gottmenschen (Anthropos) - durch die alchemistische Prozedur hergestellt worden ist, beginnt er "eine dunkle (obscurus) und rote Flüssigkeit, gleich wie Blut ... tropfenweise aus(zu)schwitzen" (46). Natürlich fällt sofort die Aehnlichkeit dieses Prozesses mit dem Blut Christi auf, welches durch den Lanzenstoss des Longinus befreit wurde und einen der Hauptinhalte der Herz-Jesu-Mystik bildete. Wir werden dieser Symbolik des durch die Lanze aus dem Herzen des Anthropos zu befreienden Blutes im nächsten Kapitel wieder begegnen.

Da der alchemistische Stein durch menschliches Bemühen aufgebaut wird und zudem seine Wurzeln in dessen Triebsphäre hat, kann er aber nicht dem historischen Christus entsprechen. Gemäss den Aussagen des Gerhard Dorn symbolisiert daher dieser Blut ausschwitzende Stein den putissimus homo, den Jung als den "echtesten" und "unverfälschten" Menschen deutet, im Gegensatz zu Christus, der den homo purissimus, den reinen, das heisst den von aller Sünde freien Gottmenschen darstellt. Wie Jung darlegt, handelt es sich bei diesem Dorn'schen Ziel des Blut ausschwitzenden Steines um den im ganz gewöhnlichen Menschen inkarnierten Gottmenschen der Zukunft, den alchemistischen Servator cosmi, der am Beginn der apokalyptischen Zeit kommen und "das bewirken soll, was der Opfertod Christi offenbar unvollendet gelassen hat, nämlich die Befreiung der Welt vom Übel" (47). Er entspricht offensichtlich dem von mir in den obigen Ausführungen dargestellten Prozess und dessen Ziel eines erneuerten Gottesbildes. Und auch Jung zieht den Schluss, dass es sich bei diesem inkarnierten Gottmenschen tiefenpsychologisch gesehen um eine Vereinigung der Prinzipien von Eros und Logos handelt, welche durch eine Bearbeitung der Triebhaftigkeit, das heisst offensichtlich durch das meditative Prinzip der Aktiven Imagination, zustandegekommen ist.

 

4.6.2 Die Energetik der Aktiven Imagination

Die Aktive Imagination stellt also die aus dem alchemistischen Opus abgeleitete tiefenpsychologische Methode dar, die benötigt wird, um die psychische Energie (Libido), die bisher in der Trieb- und Affektsphäre gefangen war, in eine geistige Ebene überzuleiten. Wie wir daraus ersehen, geht die tiefenpsychologische Hypothese in Übereinstimmung mit der modernen Physik von einem energetischen Konzept aus. Während diese psychische Energie bei Sigmund Freud mit der sexuellen identisch ist, äussert sie sich bei Alfred Adler als Macht und Aggression. Bei C.G. Jung hingegen stellt die Libido, die psychische Energie, eine empirisch zwar beobachtbare, letztlich aber bewusstseinstranszendente Grösse dar - der Leser sei an die "negative Energie" der Physik erinnert -, welche sich sowohl in der triebhaften als auch in der archetypischen Ebene äussern kann.

Folgerichtig hat C.G. Jung daher vermutet (48), dass Trieb und Archetypus die zwei Seiten ein und derselben Medaille bilden, wobei der Trieb sozusagen am infraroten Ende des Spektrums liegt und in die Materie hinunterreicht, währen der Archetypus am ultravioletten und geistigen Gegenpol sich befindet. Damit postulierte C.G. Jung letztlich auch, dass die Libido nicht nur die Triebtriade besetzen, sondern durch einen bewussten Akt in deren archetypisches Korrelat übergeleitet werden kann. Bei diesem Prozess der bewussten Libido-Transformation in der Aktiven Imagination handelt es sich um etwas wesentlich anderes, als bei der Sublimierung nach Sigmund Freud. Sublimierung geht nämlich im Wesentlichen unbewusst, das heisst ohne eine aktive Beteiligung des Bewusstseins, vor sich. Das Ziel der Libido-Transformation besteht im Gegensatz dazu jedoch in der Erlangung der Fähigkeit, die seelische Energie bewusst von der Triebsphäre in die archetypische umzuleiten - oder sie auch mal dort zu belassen, beispielsweise wenn der Frühling ausbricht...!

Man tut immer gut daran, nicht nur die Menschen, sondern auch die Wörter beim Wort zu nehmen. Denn eine vermeintlich hundertprozentig bewusste Setzung eines neuen Begriffs beinhaltet immer auch einen unbewussten Anteil. Wir wollen deshalb den Terminus Sublimierung etwas genauer unter die Lupe nehmen.

In der Chemie bedeutet Sublimation den Übergang vom festen in den gasförmigen Zustand, ohne dass die Zwischenstufe des flüssigen Zustandes auftritt. Der starre Körper löst sich sozusagen gleich in Luft auf und wird nie flüssig. Noch einmal müssen wir ein Wort beim Wort nehmen. Es würde uns nie einfallen zu sagen, dass die psychische Energie beispielsweise in die Arbeit fliege, sondern wir drücken diesen Tatbestand der Umleitung der Libido mit dem Wort fliessen aus. Es scheint somit, dass der flüssige Aggregatszustand, welcher der Freudschen Sublimierung fehlt, der für die Überleitung der Energie am geeignetste darstellt.

Um den flüssigen Zustand der psychischen Energie oder Libido wahrzunehmen, muss auch das Wahrnehmungsorgan, das Bewusstsein, flüssig, spontan und quecksilbern werden. Dies sind Eigenschaften eines Bewusstseins, welches ein gewisses Mass an Eros integriert hat. Sein fliessendes Wesen kompensiert die Starrheit und Gesetzesgläubigkeit des heutigen männlichen und wissenschaftlichen Bewusstseins und nähert dieses derart dem weiblichen an. Schon der Taoismus und der griechische Philosoph Heraklit ("Alles fliesst!") waren von ähnlichen Vorstellungen geprägt, welche neuerdings die subatomare Physik als Wellenaspekt der Materie wiederfindet. Es lässt sich deshalb an dieser Stelle schon vermuten, dass die Elementarteilchen- und Quantenphysik auch wesentliche Inhalte eines erneuerten Bewusstseins in die Materie projiziert.

 

4.6.3 Der alchemistische Pelikan und die Synchronizität

Was könnte nun aber ein flüssiger Zustand der Libido als Voraussetzung für deren Transformation von der Triebsphäre in die archetypische tiefenpsychologisch bedeuten. Auch die Lösung dieses Problems hat der geniale Paracelsus in einem symbolischen Bild schon geschaut. In seinem Werk De vita longa nimmt der Pelikan (49) (vgl. Abb. 4.12) einen zentralen Platz ein.

 

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Abb. 4.12: Der alchemistische und der christliche Pelikan

 

Es handelt sich dabei um eine alchemistische Retorte mit ganz spezifischen Eigenschaften. Als Retorte dient sie vorerst einmal dem Alchemisten für die übliche Prozedur: Ein fester Ausgangsstoff (symbolisch "Erde") wird in diese Retorte gegeben und mit Wasser vermischt. Da chemische Prozesse durch die Zuführung von Wärme beschleunigt beziehungsweise erst ermöglicht werden, wird dieser Retorte ein Feuer unterlegt. "Erde", "Wasser" und "Feuer" sind derart beisammen und bilden die prima materia des Alchemisten, aus welcher nun die "Luft" als viertes Element extrahiert werden soll. Wir werden im nächsten Kapitel sehen, dass diese drei Elemente auch die unteren drei Chakras des Tantrismus symbolisieren, welche ich in einer tiefenpsychologischen Terminologie der Triebtriade von Exploration, Sexualität und Aggression gleichsetzen werde. Erst die durch das Feuer bewirkte Verflüssigung, welche natürlich am Beispiel der Metalle ("Metall" = alchemistisch "Erde") sehr schön beobachtet werden konnte, erlaubte die nachfolgende Verdampfung, welch als Extraktion des Erdgeistes gedeutet wurde.

Das Metall Quecksilber nimmt in diesem alchemistischen Prozess eine besondere Stellung ein. Da es bei normalen Temperaturen bereits flüssig ist und schon merklich verdampft, eignete es sich besonders gut als Projektionsträger für den zu extrahierenden Erdgeist. Da Quecksilber astrologisch dem Mercurius-Hermes gleichgesetzt wurde, wurde auch er zu diesem alchemistischen Prinzip, aus welchem sich relativ leicht der Geist der Erde extrahieren liess. Psychologisch gesehen entspricht Mercurius-Hermes aber der Achse Exploration-Meditation (vgl. Abb. 4.7). Wie wir oben gesehen haben, spielt diese beim Prozess des Aufbaus des erneuerten oberen Gottesbildes und damit auch in der Aktiven Imagination eine zentrale Rolle, indem in ihr die Libido in die Introversion umgeleitet wird. Der flüssige Zustand der Libido wird somit dadurch erreicht, dass das Prinzip der extravertierten Exploration durch jenes der introvertierten Meditation ergänzt wird, mit anderen Worten: Die Verflüssigung symbolisiert die Introversion der psychischen Energie.

Im Sinne einer Selbstamplifikation des Archetypus (50) hat sich diese Symbolik in der speziellen Retorte des Pelikans in verdichteter Form durchgesetzt. Dieser muss nämlich während des ganzen alchemistischen Prozesses dicht verschlossen bleiben. Psychologisch gesehen bedeutet dies natürlich die Haltung einer extremsten Introversion. Zudem wird im Pelikan durch die zwei charakteristischen Glasrohre (vgl. Abb. 4.12) der Dampf wieder in die Flüssigkeit hinuntergeleitet. Dieser Prozess entspricht dem alchemistischen Wahlspruch: "Mach das Feste flüchtig und das Flüchtige fest" (51), und er war natürlich nur von Erfolg gekrönt, wenn der Pelikan verschlossen blieb. So wurde zudem die sogenannte zirkuläre oder rotierende Destillation (52) eingeleitet. Nach der Vorstellung der Alchemisten bewirkte dies, dass das Destillat immer konzentrierter und dadurch zur Essenz der prima materia wurde, welche ihrerseits das Ziel der ganzen Prozedur darstellte.

Zusammenfassend können wir also aussagen, dass die Eigenschaften der Geschlossenheit und der zirkulären Destillation den alchemistischen Pelikan zu einem Symbol eines tiefen Introversionszustandes werden lassen. Dies wiederum heisst, dass die Überführung der psychischen Energie aus dem starren all-or-none-reaction-Zustand (53) der Triebtriade in den flüssigen der Bewusstseinsfähigkeit nur durch einen bewussten Akt der Introversion möglich ist. Erst die spezifisch menschliche Fähigkeit, sich bewusst von der Identifikation mit der Triebhaftigkeit abzusetzen und sich in der introvertierten Prozedur der Aktiven Imagination mit deren Äusserungen zu konfrontieren, ermöglicht die Umleitung der psychischen Energie in die archetypische Ebene.

Der alchemistische Pelikan symbolisiert jedoch noch ein weiteres, in unserem Zusammenhang sehr wichtiges Phänomen. Der Alchemist setzt mit Hilfe des Pelikans den Prozess von unten nach oben, die Energetisierung der Materie, die er als eine Vergeistigung deutete, in Gang. Erst die Geschlossenheit und die beiden nach unten führenden Rohre des Pelikans bewirken den Parallelprozess der "Verfestigung des Flüchtigen", den man symbolisch als eine Materialisierung der Energie, eine Verstofflichung des Geistes bezeichnen kann. Dabei ist zu betonen, dass der in einer präkausalen Welt lebende Alchemist dieses Geschehen nicht etwa kausal verstand, sondern er erlebte dieses als eine ursachelos parallele Erscheinung zwischen "Geist" und "Materie". Erst die spätere Naturwissenschaft hat diesem Naturgeschehen einen Kausalnexus übergestülpt.

Die Aktive Imagination stellt die tiefenpsychologische Umsetzung der alche-mistischen Uridee des Pelikans dar. In ihr ist man bestrebt, eine Vergeistigung der Triebhaftigkeit zu erreichen, welche man physikalisch gesehen als Energetisierung der Materie interpretieren kann. Die alchemistische Parallelsymbolik zeigt uns, wie wichtig dabei die Introversion ist. Wir haben diese auch in einen Zusammenhang mit der paracelsischen Mumifizierung gebracht, welche tiefenpsychologisch gesehen der Stillegung des triebhaft erregten Körpers entspricht.

Bei der Anwendung der Aktiven Imagination passieren des öfteren äussere Ereignisse, die sich als zugehörige Materialisierungen der objektivpsychischen Energie interpretieren lassen. Mit anderen Worten gesagt, scheint es, dass bei deren richtiger Anwendung ursachelos parallel - der Physiker würde sagen: nichtlokal - in der Aussenwelt Dinge geschehen, die in einen synchronistischen Kontext zur Aktiven Imagination gehören. Der Pelikan symbolisiert somit auch das Phänomen der Synchronizität.

Wir werden aufgrund einer symbolischen Betrachtungsweise sehen, dass die Physiker mit dem Beschleuniger und der Blasenkammer, in welchen eine andauernde Energetisierung der Materie mit anschliessender Materialisierung der Energie geschieht, ohne ihr Wissen nichts anderes als den alchemistischen Pelikan neu erfunden haben! Eines der wichtigsten, mit Hilfe dieses "physikalischen Pelikans" gefundenen Resultate stellt aber der Erhaltungssatz der Seltsamkeit dar, und es kommt der begründete Verdacht auf, dass die Physiker mit dieser strangeness das Prinzip der Synchronizität in der Materie wiedergefunden haben.

Da die Physik den Zusammenhang zwischen den Geschehnissen im Beschleuniger (Energetisierung der Materie) und in der Blasenkammer (Materialisierung der Energie) bis heute immer noch (statistisch-)kausal interpretiert, kann sie allerdings nicht sehen, dass sie mit deren Hilfe in der Materie den Prozess der creatio continua simuliert, der in naher Zukunft jedoch in die Seele jedes einzelnen wird verlegt werden müssen.

 

4.6.4 Der christliche Pelikan und das Herz

Im fünften Kapitel wird das Symbol des Herzens eine zentrale Rolle einnehmen. Daher müssen wir uns an dieser Stelle noch fragen, wie der alchemistische Pelikan damit zusammenhängt. In der mittelalterlichen christlichen Symbolik bedeutet der Pelikan eine Allegorie Christi (54). Diese Gleichsetzung geht auf eine Fabel zurück, in welcher dieser seine Brust öffnet, um mit seinem Herzblut die toten Jungen wieder zum Leben zu erwecken (vgl. Abb. 4.12). Dies verbindet ihn mit der Symbolik des Lanzenstosses in das Herz, welche in der christlichen Herz-Jesu-Mystik und in den Visionen des Niklaus von Flüe eine grosse Rolle spielt. Es fällt zudem auf, dass der alchemistische Pelikan sehr stark einer Abstraktion des Herz-Kreislauf-Systems gleicht, welches erst anfangs des 17. Jahrhunderts, somit nach diesem entdeckt wurde. Das Symbol des Pelikans scheint offensichtlich einerseits mit jenem des Herzens, andererseits aber auch mit dem Lanzenstoss in dieses Herz verbunden. Damit wird auch das Phänomen der Synchronizität in einen Zusammenhang mit der Herzsymbolik gebracht.

Wir werden im sechsten Kapitel sehen, dass das Funktionsprinzip der Blasenkammer, eines der wichtigsten Erkenntnisinstrumente der Elementarteilchenphysiker, symbolisch gesehen viel Ähnlichkeit mit jenem des Herzens besitzt. Der Teilchenstrahl des Beschleunigers wird sich zudem symbolisch gesehen als ein Blitzstrahl oder eine Lanze entpuppen, die in eben dieses Herz einfahren. Wie ich bereits oben erwähnt habe, führten die Geschehnisse in diesem "Blasenkammer-Herzen" zur Postulierung des Erhaltungssatzes der sogenannten Seltsamkeit (strangeness), welche phänomenologisch gesehen der Synchronizität entspricht. Auch in der Physik hat sich somit der vorbewusst-archetypische Prozess der Wahrnehmung der Synchronizität im Herzen unbewusst und daher in die Materie projiziert durchgesetzt.

Das Herz gilt seit alters her auch als der Sitz des Eros, der zwischenmenschlichen gefühlsmässigen Bezogenheit, und der Liebe. Der Pelikan als der Ort der Verflüssigung und damit der Transformationsfähigkeit der Libido zeigt uns offensichtlich, dass Eros und Introversion intensiv zusammenhängen: Erst die Introversion scheint in den Zustand des Eros, das heisst in die bewusst gelebte Beziehungsfährigkeit, zu führen.

Dieses für manchen Leser vielleicht erstaunliche Resultat hat uns bereits zum Inhalt des nächsten Kapitels geführt. Ich werde darin zeigen, dass Niklaus von Flüe, der introvertierte Schweizer Mystiker, die Lösung des Problems der Überleitung der psychischen Energie aus der Triebsphäre in den oberen, archetypischen Bereich des Eros nur durch einen Rückzug von der Welt und durch eine introvertierte Meditation finden konnte.

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1) Im Sinne des Terminus, wie ihn C.G. Jung definiert (vgl. dazu das erste Kapitel). Der Begriff darf vor allem nicht mit jenem Sigmund Freuds verwechselt werden.

 

(c) copyright by Remo F. Roth, Zürich, Switzerland

 

 

25.12.2002