Remo F. Roth

Dr. oec. publ., Ph.D.

dipl. analyt. Psychologe (M.-L. v. Franz)

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© copyright 1992 by Remo F. Roth, Zugerroseweg 5, CH-8810 Horgen-Zürich
 

GOTT IST TOT - ES LEBE DER GEIST DER ERDE !

(1. Kapitel des Buches Die Gottsucher)

 

  


Inhalt: 

1.1 Kompensation und vorbewusstes Wissen

1.2 Die Traumdeutungsmethode C.G. Jungs

1.3 Der Zeitgeist und dessen kollektive Kompensation

1.4 Der christliche Zeitgeist und die Kompensation der Gnostiker

1.5 Die ägyptische Trinität und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins

1.6 Die Erlösung Gottes durch den Menschen

1.7 Die Folgen der Verdrängung der Idee der Gotteswandlung


 

1.1 Kompensation und vorbewusstes Wissen

 

Meine im vorliegenden Buch dargelegten Gedanken beschäftigen sich mit der Anwendung der revolutionären Entdeckungen C.G. Jungs auf die Zentralideen des christlichen Zeitalters und auf die unbewussten Wandlungsphänomene innerhalb des Christentums, welche heute, am Beginn des neuen Zeitalters des Wassermanns (Aquarius), immer deutlicher in Erscheinung treten. Um dieses neue Weltbild verstehen zu können, werden wir uns vorerst mit der Entwicklung des christlichen Zeitgeistes beschäftigen müssen. Dies wiederum bedingt, dass wir zu den Wurzeln desselben zurückzugehen haben.

Als psychologischer Forscher muss ich mich auf die psychologische Interpretation der christlichen Zentralideen beschränken. Der Vorteil dieses Mankos besteht jedoch darin, dass ich derart auch die von der Kirche ausgeschlossenen und verketzerten Ansichten in meine Untersuchung mit einbeziehen kann. Erst diese kompensatorischen Gegenströmungen zum offiziellen Christentum, welche zudem dem vorbewussten Wissen eines deus absconditus, eines in der Erde verborgenen göttlichen Prinzips zu entstammen scheinen, erlauben uns ein vom psychologischen Standpunkt her gesehen vollständiges Bild der christlichen Entwicklung aufzuzeichnen.

Mit diesen Ausführungen bin ich schon mitten in zwei wichtige Entdeckungen C.G. Jungs hineingeraten: Die Hypothese eines in der Erde, in der Triebhaftigkeit, im menschlichen Körper oder in der Materie verborgenen göttlichen Prinzips einerseits, die Idee der Kompensation andererseits.

C.G. Jung hat im Laufe seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit dem Unbewussten herausgefunden, dass Träume, Phantasien und Visionen einen kompensatorischen Standpunkt zur Bewusstseinslage einnehmen. Unser Bewusstsein ist in einem subjektiven, von Projektionen getrübten Vorurteil über sich selbst befangen. Diese Projektionen spiegeln dem Individuum ein verfälschtes Bild über sich und die Mitmenschen vor. Es gehört jedoch zum Wesen des psychologischen Tatbestandes des Vorurteils, dass ein davon befallenes Bewusstsein darauf beharrt, dass dieses Vorurteil einem logisch oder gefühlsmässig begründeten objektiven Urteil entspricht. Solche Vorurteile sind so lange kein Problem, wie sie die Anpassung an die Umwelt und die Mitmenschen nicht in entscheidendem Mass stören.

Im Fall einer Neurose nimmt das Mass solcher Projektionen der eigenen Problematik und der dazugehörenden Vorurteile derart zu, dass das betroffene Individuum sich immer mehr von den Mitmenschen isoliert. Die psychologische Erfahrung lehrt uns, dass die Spontanprodukte des Unbewussten in einem solchen Fall ein ganz anderes Bild der betreffenden Person zeigen. Wenn ein Mensch somit die Demut aufbringt, sich zuzugestehen, dass in seinem Leben etwas nicht mehr stimmt, seine überhebliche bewusste Einstellung aufgibt und sich derart der Botschaft seiner Träume gegenüber öffnet, so werden ihm diese des öfteren ein ganz anderes und manchmal nicht allzu schmeichelhaftes Bild seiner Persönlichkeit aufzeichnen. Diese Eigenschaft der Träume und anderer Spontanprodukte des Unbewussten hat C.G. Jung deren kompensatorische Funktion genannt.

Träume und andere Spontanmanifestationen des Unbewussten scheinen offensichtlich weit mehr zu wissen, als unser beschränktes Bewusstsein. Es drängt sich deshalb der Eindruck auf, dass diese Träume von einer objektiven Instanz gesandt würden, welche aus einem höheren Wissen heraus dem Bewusstsein die entsprechenden Botschaften vermitteln kann. C.G. Jung spricht daher von einem absoluten oder vorbewussten Wissen des kollektiven Unbewussten. Der Terminus "vorbewusst" bedeutet dabei im Unterschied zu dessen Verwendung in anderen psychologischen Schulen ein Wissen, welches schon bestand, bevor der Mensch dieses erkannte. Wir werden später sehen, dass es sich dabei um Äusserungen eines überindividuellen und somit kollektiven Geistes handelt, welchen C.G. Jung als den Geist des kollektiven Unbewussten oder auch den Geist der Erde (später dann als die "objektive Psyche") bezeichnete. Dieser Geist, welchen Paracelsus das "Licht der Natur" nannte, scheint offensichtlich mehr als das individuelle Bewusstsein zu wissen und sowohl dieses als auch das kollektive Bewusstsein zu kompensieren, sobald diese zu sehr von ihrer Instinktgrundlage abweichen und einen falschen Weg einschlagen .

Beide Hypothesen C.G. Jungs jene des absoluten und vorbewussten Wissens des kollektiven Unbewussten und jene von dessen zum Bewusstsein kompensatorischer Funktion sind durch die psychotherapeutische Praxis vielfältig abgesichert. Ich werde im folgenden beide Ideen als vorgegeben voraussetzen.

 

 

1.2 Die Traumdeutungsmethode C.G. Jungs

 

Im Einzelfall ergibt sich mit Hilfe dieser Hypothesen eine individuelle Traumdeutung, deren Methodik ebenfalls von C.G. Jung entwickelt wurde. Diese vorurteilslose Deutung zerfällt in vier Teile:

1. Man schaut sich den bewussten Zustand des Träumers genau an. Dies wiederum bedeutet, dass man die sich im Bewusstsein befindlichen Gedanken und Urteile über die eigene Person beziehungsweise über die Person des Klienten möglichst umfassend herausdestilliert.

2. Man schaut sich einen Traum aus der jüngsten Zeit an, lässt dazu assoziieren, um den Trauminhalt mit diesen Assoziationen sinnvoll anzureichern.

3. Man versucht eine Deutung des Traumsinnes, welcher sich erfahrungsgemäss kompensatorisch zu den Bewusstseinsinhalten verhält, d.h. die Vorurteile des Bewusstseins über sich selbst korrigiert. Derart wird das bewusste Wissen über sich selbst ausgeweitet, womit die Gelegenheit zur Korrektur dieser Haltung gegeben ist. Da alles, was unbewusst ist, regelmässig projiziert wird, bedeutet dieser Schritt zugleich die Rücknahme einer Projektion, in welcher das Individuum bisher in andere hineingelegte psychische Gegebenheiten nun als Inhalte der eigenen Seele anerkennt.

4. Sehr oft zeigen Träume durch ihren Inhalt auch einen Ausweg aus der Problematik. Auch diese Tatsache hängt mit dem vorbewussten Wissen des kollektiven Unbewussten zusammen.

Ich will diesen Traumdeutungsprozess anhand eines Beispiels aus meiner psychotherapeutischen Praxis veranschaulichen. Eine Klientin wandte sich in einer Identitätskrise an mich. Sie träumte sehr wenig, doch erinnerte sie sich dann an einen Traum, welcher etwa drei Monate zurücklag. Er lautet folgendermassen:

"Ich heirate einen Russen. Im Bett wird dieser ein Neger. Die Heirat ist mitten in der Woche. Mein Hauptproblem ist, dass ich diesen Mann am Wochenende verlassen muss, um zu einer Freundin zu gehen".

Ich fragte die Träumerin, was ihr zu diesem Russen denn so einfalle. Ihre Antwort, die Assoziation zu diesem Trauminhalt, war "ausgeflippt". Zu "mitten in der Woche" fiel ihr ein, dass sie dann Schulunterricht erteile, zu ihrer Freundin schliesslich, dass diese zuverlässig und pflichtbewusst sei und sehr viel arbeite. Da mir die erste Assoziation noch zu wenig brachte, fragte ich diese Frau auch, was für sie den ausgeflippt sei. Die Antwort verblüffte mich: "am Morgen im Bett liegenbleiben".

Setzt man diese Assoziationen in den Traumtext ein, so ergibt sich unmittelbar eine Deutung. "Ich heirate einen Russen" wird mit Hilfe der Assoziation zu "Ich heirate meine ausgeflippte Seite, welche darin besteht, dass ich am Morgen manchmal im Bett liegenbleibe". Nimmt man die Heirat schliesslich als eine intensive Beziehung, so heisst der erste Satz, dass die Klientin sich angewöhnen muss, manchmal am Morgen im Bett liegenzubleiben, und dass sie zu diesem Zustand im Halbschlaf eine intensive Beziehung aufbauen muss. Diese Heirat ist mitten in der Woche, das heisst dann, wenn diese Frau Schulunterricht erteilt. Tatsächlich sprang sie aber jeden Morgen mit einem Satz aus dem Bett, obwohl sie manchmal am Morgen nicht arbeitete (sie arbeitete ein halbes Pensum). Weiter zeigt der Traum der Träumerin eine unbewusste Schattenseite, das heisst eine Seite ihrer Psyche, über welche sie nicht bewusst ist. Die Traumfreundin schildert sie nämlich als pflichtbewusst, zuverlässig und voller Arbeitswut. Vor allem am Wochenende scheint zudem die Gefahr zu bestehen, dass sie dieser Arbeitswut verfällt und damit den Kontakt zum "Russen", der Haltung des ImBettLiegenbleibens, verliert. Tatsächlich arbeitete sie denn auch am Wochenende viel für die Schule.

Wir können zusammenfassend also folgendes aussagen: Die Träumerin lässt sich am Morgen zu wenig gehen, indem sie sich nicht erlaubt, manchmal im Bett im Zustand des Halbschlafes liegenzubleiben. Zudem ist sie vor allem am Wochenende zu pflichtbewusst und arbeitet zu viel für die Schule. Sie muss diese bewusste Haltung korrigieren, indem sie am Morgen im Bett liegenbleibt und am Wochenende nicht zu viel arbeitet.

Meine Klientin akzeptierte meine Deutung, und diese wurde für sie zu einem eigentlichen AhaErlebnis. Nie hätte sie bis dahin gesehen, dass sie sich zu sehr zum Arbeiten zwingt, und dass ihr momentan wichtigstes Problem darin bestand, dass sie sich etwas zu schnell aus der Traumwelt in die sogenannt reale hineinkatapultierte. Sie blieb von nun an des öfteren am Morgen liegen, und was geschah? Sie die sich bisher kaum an einen Traum erinnern konnte träumte von da an regelmässig, und die Deutung dieser Träume führte sie in ein äusserst schöpferisches Leben hinein.

Wir sehen aus diesem einzigen Traum, der sinnvollen Anreicherung mit Assoziationen und der anschliessenden Deutung folgendes: Das Bewusstsein der Träumerin war durch ein Vorurteil eingeschränkt, das Vorurteil nämlich, dass sie am Morgen mit einem Satz aus dem Bett springen und am Wochenende für die Schule arbeiten müsse. Der Traum kompensiert diese Haltung, indem er ihr sagt, dass sie im Bett liegenbleiben und am Wochenende weniger arbeiten solle. Als sie sich diese neue bewusste Haltung aneignete, begann sie intensiv zu träumen. Der Traum wusste somit, dass diese Frau zum Träumen kommen wird, wenn sie ihre bewusste Haltung ändern wird. Weder ich noch die Träumerin hätten diesen Sachverhalt in einem bewussten Gespräch herausgefunden. Der Traum kompensierte somit eine offensichtlich falsche bewusste Haltung mit seinem absoluten und vorbewussten Wissen über die Träumerin. Da sie durch diese Korrektur des bewussten Lebens in eine intensive schöpferische Phase hineingeführt wurde, welche sie tief beglückte und viele andere Probleme in den Hintergrund treten liess, zeigte sich gleichzeitig, dass der Traum einen vorbewussten Sinn beinhaltete, den wir im vorliegenden Fall aus dem Unbewussten extrahieren und in eine bewusste Erkenntnis umformen konnten.

 

 

1.3 Der Zeitgeist und dessen kollektive Kompensation

 

Eine ähnliche Methodik der Sinndeutung können wir nun auf eine kollektive Situation anwenden. Dabei setzen wir voraus, dass ein Kollektiv über einen gewissen Vorrat bewusst gewordener Ideen, den kollektivbewussten Zeitgeist, verfügt. Dieser Zeitgeist wird zum allgemein anerkannten übergeordneten Ordnungsprinzip einer Kultur und jedermann akzeptiert diese irgendwann einmal geoffenbarte Wahrheit. Beispiele dafür sind die Zentralideen des Christentums oder der Inhalt des islamischen Korans. Mit der Zeit altern diese Ideen, was nichts anderes heisst, als dass sie der wahren kollektiven Situation nicht mehr entsprechen und derart zu einem Vorurteil werden. Aus dem kollektiven Unbewussten tauchen nun in gewissen Menschen, in den Mystikern der betreffenden Kultur, zu diesem Zeitgeist kompensatorische Ideen auf, welche eine Wandlung des Kollektivbewusstseins anstreben. Da es sich dabei um Zentralideen einer neuen menschlichen Kultur handelt, kann man in diesem Zusammenhang auch von einer Wandlung des Gottesbildes im Menschen sprechen. Wir haben oben gesehen, dass durch eine sinnvolle Traumdeutung das Bewusstsein unserer Träumerin gewandelt wurde. In ähnlicher Weise scheint das kollektive Unbewusste von Zeit zu Zeit gewissen dazu ausersehenen Menschen grosse Träume und Visionen zu senden, welche die kollektivbewussten Ideen, das heisst das geglaubte Gottesbild, wandeln wollen. Ein gutes Beispiel dafür sind die Visionen des indianischen Schamanen "Black Elk" , welche tatsächlich zur Einführung neuer Riten in der betreffenden indianischen Gemeinschaft führten.

Ich habe oben gezeigt, dass der Traumsinn aus dem Traumtext allein kaum extrahiert werden kann. Wir mussten dazu Assoziationen der Träumerin aufnehmen, um mit deren Hilfe den Sinn des Traumes langsam herauszudestillieren. Ähnliches gilt für die grossen Träume und Visionen. Das kollektive Unbewusste ist nicht in der Lage, sich in der uns gewohnten konkreten Umgangssprache zu äussern. Es bedient sich deshalb einer bildhaften Sprache, oder eben der Bilder der Visionen. Zu diesen Bildern müssen wir assoziieren, um den kompensatorischen Sinn derselben herauszuarbeiten. Während das Bewusstsein des Menschen in der Lage ist, zu Inhalten gewöhnlicher Träume aus seinem Vorstellungsbereich zu assoziieren, ist dieses Vorgehen für die Inhalte grosser Träume und Visionen, für die Inhalte des kollektiven Unbewussten, nicht anwendbar. Denn bei diesen Inhalten handelt es sich um neue Ideen, welche der Menschheit noch nie bewusst waren. Bei solchen Träumen und Visionen muss deshalb eine Methode der kollektiven Assoziation verwendet werden. C.G. Jung hat diese Methode in die Psychologie eingeführt und als Amplifikationsmethode bezeichnet. In dieser reichert man die Inhalte von Visionen und grossen Träumen sinnvoll mit Parallelmotiven aus dem mythologischen Wissensschatz der Menschheit an, um derart den symbolischen Sinngehalt dieser Spontanprodukte des Unbewussten herauszudestillieren. In einem gewissen Moment dieser amplifizierenden Tätigkeit bricht dann plötzlich des öfteren wie eine Erleuchtung der konstellierte Sinn in einer bewussten Erkenntnis durch, welche zudem verbalisiert, das heisst in die Terminologie unserer Sprache umgesetzt werden kann. Durch die Bemühung des menschlichen Bewusstseins hat das kollektive Unbewusste derart den Sinn der von ihm aus einem vorbewussten Wissen heraus produzierten Symbole freigegeben, und die Menschheit ist um eine bewusste Erkenntnis reicher. Das Kollektivbewusstsein hat sich derart ausgeweitet und gewandelt, was man religionspsychologisch als eine Wandlung des Gottesbildes im Menschen interpretieren kann. Psychologisch bedeutet eine solche Wandlung das Auftauchen eines neuen Zeitgeistes.

Eine zusammenfassende Gegenüberstellung des Traumdeutungsprozesses im individuellen und im kollektiven Fall zeigt die folgende Übersicht:

 

 

 

Diese Methode der Amplifikation der Anreicherung der Spontanprodukte des kollektiven Unbewussten als Reaktion auf den bewussten Zeitgeist kann nun auch auf geistesgeschichtliche Phänomene angewandt werden. Als Hypothese setzt man dabei voraus, dass der Geist des kollektiven Unbewussten den herrschenden Zeitgeist mit anders gearteten Ideen zu kompensieren beginnt, sobald diese bewussten Ideen zu einseitig und zu starr geworden sind. C.G. Jung hat diese Methode auf die Ideen der Alchemie angewandt und derart gezeigt, dass in ihr die zum offiziellen Christentum kompensatorischen Ideen, welche dieses hätten erneuern können, an die Oberfläche drängten. Die Alchemisten waren jedoch noch nicht in der Lage, diese Visionen und Phantasien zu deuten, das heisst in eine konkrete psychologische Sprache umzusetzen. C.G. Jung hat diese Deutungsarbeit begonnen und derart den Sinngehalt des neuen Zeitgeistes in eine uns verständliche Sprache umgesetzt. Doch dazu später.

 

 

1.4 Der christliche Zeitgeist und die Kompensation der Gnostiker

 

Bevor C.G. Jung auf die Fundgrube der Alchemie stiess, beschäftigte er sich intensiv mit den Ideen der Gnostiker. Diese, vor allem die christlichen Gnostiker bildeten im ersten und zweiten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung eine später als Häresie verdammte Gegenströmung zu der durch die Kirchenväter dogmatisierten Lehre des offiziellen Christentums aus . Da uns zur Zeit C.G. Jungs die Ideen der Gnostiker nur aus einer Handvoll Fragmente und den Gegendarstellungen der Kirchenväter zur Verfügung standen, brach er diese Forschungen ergebnislos ab. Seither hat sich jedoch das Blatt gewendet. Im Jahr 1945 wurden im oberägyptischen Nag Hammadi ungefähr 50 handschriftliche Originalmanuskripte in koptischer Sprache entdeckt, welche sich als gnostische Schriften entpuppten. Viele davon entstammen der christlichen Gnosis und datieren aus dem ersten und zweiten Jahrhundert n. Chr. Sie sind somit ungefähr zur Zeit der vier offiziellen christlichen Evangelien entstanden. Obwohl sie als Evangelien gewisser Apostel deklariert wurden, so gibt es unter anderen ein "Thomasevangelium", ein "Philippusevangelium" und eine "Petrusapokalypse" , nimmt die Forschung heute im allgemeinen an, dass sie der introvertierten Phantasie anderer Verfasser entsprungen sind. So weiss man beispielsweise von Valentinus, einem der bedeutendsten christlichen Gnostiker und Begründer der Sekte der Valentinianer, dass er für sich in Anspruch nahm, von Theudas, einem Schüler des Apostels Paulus initiiert worden zu sein. Die historische Wahrheit wird in Bezug auf diese Aussage des Valentinus kaum mehr zu ergründen sein. Psychologisch gesehen können wir jedoch vermuten, dass Valentinus vorerst von den sich damals wie ein Windfeuer ausbreitenden Ideen des Paulus und anderer Jünger angesteckt wurde. Mit der Zeit drängten dann aus dem vorbewussten Wissen des kollektiven Unbewussten zu diesen Ideen kompensatorische Phantasien und Visionen in sein Bewusstsein herauf, welche er in seinen diversen Schriften dann als eigene, introvertiert erfahrene Offenbarung niederschrieb. Die Entdeckung der Originaltexte der christlichen Gnostiker erlaubt uns somit, das oben erwähnte Verfahren anzuwenden. Ich werde deshalb einige der zentralen Ideen der Gnostiker jenen der offiziellen Kirche gegenüberstellen. Daraus können wir ersehen, in welch einseitiger Art und Weise das Christentum und sein Gottesbild sich entwickelten, und welche andere Entfaltung ebenfalls möglich gewesen wäre. Zudem werden wir sehen, dass die unterdrückten gnostischen Ideen im Laufe der zweitausendjährigen christlichen Entwicklung immer wieder an die Oberfläche drängten und von den Kirchenvätern als Häresien ausgeschaltet werden mussten.

Wir haben uns nun mit den Zentralideen des christlichen Zeitgeistes der ersten Jahrhunderte und mit den dazu kompensatorischen Ideen der Gnostiker zu befassen.

Der Beginn des Christentums wird durch zwei Zentralideen geprägt: Die erste Idee betrifft Gedanken über die Struktur des Gottesbildes, die zweite Idee bezieht sich auf die Offenbarungsfähigkeit.

Der urchristliche Zeitgeist, welcher sich im grossen Ganzen bis heute erhalten hat, definierte Gott als eine obere (himmlische), rein geistige und männliche Trinität (Dreieinigkeit).

Diese obere Trinität ist zudem eine horizontale, und sie besteht aus dem Vater, dem Heiligen Geist und dem Sohn.

Die christliche Trinitätsidee besitzt zwei ganz wesentliche Inhalte, jenen der Homoousie (Dreieinigkeit) einerseits, jene des Filioque andererseits. Auf diese zwei Begriffe werde ich im zweiten Kapitel ausführlich eingehen.

In der christlichen Trinität hat Jesus Christus als Gottessohn die einmalige Fähigkeit gehabt, direkt von Gottvater und dem Heiligen Geist ein Offenbarungswissen zu empfangen. Dieses einmalig geschaute Offenbarungswissen floss im Pfingstwunder vom oberen Gott auf die Menschen hinunter. Die christliche Offenbarung fliesst somit von oben nach unten.

Dabei ist der Mensch passiver Empfänger dieser einmalig geoffenbarten Wahrheit. Mit anderen Worten heisst dies, dass er diese Wahrheit zu glauben hat. Glaube wird gefordert, nicht Gotteserkenntnis!

Gott wird zudem von den Kirchenvätern ein für alle mal und in Ewigkeit unabänderlich definiert. Er ist zu keiner Wandlung fähig.

Im Gegensatz zu diesen christlichen Zentralideen, dem christlichen Zeitgeist, stehen nun die dazu kompensatorischen Ideen ("Träume" und "Visionen") der Gnostiker.

Deren erste Idee besagt, dass die Gottheit einem Vater-Mutter-Gott entspricht, einer Vereinigung von Himmel und Erde, von Geist und Trieb, wobei dem Menschen eine Mittlerfunktion zwischen diesen Gegensätzen zukommt .

Die gnostische Gottheit ist zudem eine vertikale Dualität. Wenn man den Menschen als Mittler mit einbezieht, so ergibt sich eine vertikale "Trinität". Einer oberen Vatergestalt steht eine untere Mutter gegenüber. Diese zwei göttlichen Gestalten werden im oder durch den Menschen vereinigt.

Im Gegensatz zu der Auffassung der dogmatischen Christen ist bei den Gnostikern jeder Mensch potentiell in der Lage, Offenbarung von dieser Vater-Mutter-Gottheit zu empfangen. Diese Offenbarung fliesst zudem von unten, von der "Mutter", beziehungsweise einem Geist der Erdgöttin, nach oben zum "Vater".

Der Mensch ist bei dieser Prozedur aktiv beteiligt, indem er in einem introvertierten Prozess dieses Wissen der Erdgöttin in den oberen Bereich des "Vaters" umleitet.

Durch diese Prozedur findet zudem eine dauernde dynamische Wandlung des oberen Gottesbildes, des "Vaters" statt.

Ursprung dieser gnostischen Kompensation zu den christlichen Zentralideen ist letztlich die ägyptische Trinität, welche ihrerseits ein Modell der Entstehung des Bewusstseins darstellt .

Aus diesen Ausführungen geht unmittelbar hervor, worin die Kompensation der Gnostiker und später der christlichen Mystiker bestand. Sie versuchten eine Meditation über das Gottesbild und waren deshalb bestrebt, durch eine möglichst umfassende Selbsterkenntnis Gotteserkenntnis zu erlangen . Sie träumten dabei sozusagen die kollektiven Träume, welche das im Entstehen begriffene Gottesbild des Christentum kompensieren sollten. Dies wiederum war möglich, weil sie die potentielle Fähigkeit des Menschen zu einer aus einer introvertierten Haltung erfolgenden Offenbarung anerkannten. Modern ausgedrückt anerkannten sie den introvertierten Explorationstrieb, die individuelle meditative Fähigkeit jedes einzelnen Menschen.

Als Resultat meiner Überlegungen ergibt sich somit, dass der Konflikt zwischen den Kirchenvätern und den christlichen Gnostikern in grundsätzlich verschiedenen Anschauungen über die Fähigkeit der menschlichen Seele zur Reflexion über das Gottesbild bestand. Während die Kirchenväter an eine einmalig geoffenbarte metaphysische Wahrheit glaubten, bemühten sich die christlichen Gnostiker durch eine introvertierte Meditation in sich ein individuelles Gottesbild aufzubauen und derart Gnosis, das heisst Erkenntnis über sich und das latent im Menschen vorhandene Gottesbild zu erlangen. Dieses individuelle Streben nach Erkenntnis steht in krassem Gegensatz zum Glauben an das Dogma, den die Kirchenväter forderten.

In der Uebersicht 1.2 sind die wichtigsten Ideen des christlichen Zeitgeistes und der kompensatorischen Visionen der Gnostiker noch einmal zusammengefasst.

 

 

  

 

1.5 Die ägyptische Trinität und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins

 

Vorbild für die gnostische Idee einer vertikalen Vater-Mutter-Gottheit war wie erwähnt wahrscheinlich die ägyptische Göttertriade des Osiris, des Ka und des Horus. Über die Idee der Trinität hat C.G. Jung einen ziemlich langen und sehr aufschlussreichen Artikel geschrieben , in welchem er vorerst auf die vorchristlichen Parallelen zur christlichen Trinitätsidee hinweist. Göttertriaden waren in den Religionen des Altertums sehr verbreitet, so beispielsweise in der babylonischen und in der ägyptischen Kultur. Auch der Hinduismus besitzt eine Göttertriade, die sogenannte Trimurti von Brahma, Shiva und Vishnu , welche letztlich wahrscheinlich die Prinzipien von Schöpfung, Vernichtung und Erhaltung symbolisieren. Vorbild für die gnostische Trinität dürfte die ägyptische Göttertriade darstellen. Schon die ägyptische Theologie betont sehr stark die Idee der Wesenseinheit dieser drei Götter, die sogenannte Homoousie. Damit war die Idee der Dreieinigkeit Gottes, die Idee der Trinität geboren. Diese Idee besagt, dass diese drei Götter zwar drei verschiedene Personen darstellen, in ihrem Wesen jedoch eine Einheit bilden. In der ägyptischen Theologie betrifft dies Osiris, den Toten- und Jenseitsgott, seinen Sohn, den erneuerten und wiedererstandenen Horus, mit welchem der Pharao gleichgesetzt wurde, und als dritte Person schliesslich den Ka, welcher sich verbindend zwischen den Osiris als Vater und Horus als Sohn schiebt. Wie Joachim Spiegel nachgewiesen hat, handelt es sich bei dieser Trinität Osiris-Ka-Horus um die Struktur eines geistigen Schöpfungsmythos, welcher sich langsam aus dem vegetativen unterägyptischen Osirismythos durch eine Verbindung desselben mit dem oberägyptischen Gottesbild entwickelte. Diese Leistung der ägyptischen Kultur ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Die Umwandlung des Osirismythos bedeute nämlich nichts weniger, als die Bewusstwerdung der abstrakten Idee einer geistigen Zeugung durch eine Weiterentwicklung der natürlichen Anschauung des ewig gleichbleibenden Zyklus des Werdens und Vergehens, welche sich den Unterägyptern durch die Überschwemmung und anschliessende Befruchtung des Nildeltas zwangslos aufdrängte. Der ursprüngliche Osiris-Mythos entspricht dem weltweit verbreiteten Mythologem der Grossen Mutter mit ihrem frühsterbenden Sohngeliebten. Dieses Mythologem ist seinerseits eine Vergeistigung des sich ewig wiederholenden und immer gleichförmig ablaufenden Prozesses des Werdens und Vergehens der Vegetation. In der ägyptischen Theologie wird nun dieses natürliche Werden und Vergehen in einem einmaligen geistigen Akt durchbrochen, womit eine Neuschöpfung entstanden ist. Dieser Prozess bedeutet letztlich ein Modell der Entstehung eines einmaligen menschlichen Bewusstseins, indem durch einen geistigen Zeugungsakt das vorbewusste Wissen des kollektiven Unbewussten, der Ka des Unterweltsgottes Osiris, auf den Gottkönig beziehungsweise dessen himmlisches Abbild Horus übertragen wird. Wir können daraus schliessen, dass die ägyptische Trinität von Osiris-Ka-Horus einem Strukturmodell des Prozesses der Entstehung des menschlichen Bewusstseins durch Übertragung eines "Geistes" (des Ka) vom unterweltlichen Osiris, einem Gott der Erde, des Unteren und des Jenseitigen, auf den Pharao als Repräsentanten eines Gottmenschen entspricht. Die ägyptische Trinität erscheint somit als eine vertikale, mit dem Unterweltsgott Osiris an der Basis und dem Pharao und Gottkönig (Horus) am oberen Ende, wobei diese beiden Götter durch den Ka verbunden sind. Dass mit diesem Prozess das Phänomen der Einmaligkeit verbunden ist, zeigt laut Joachim Spiegel die Tatsache, dass etwa gleichzeitig mit der Ausbildung dieses neuen Osirismythos bei den Ägyptern die Erfindung des Kalenders und damit die Entdeckung der Idee einer linearen Zeit vonstatten ging. Das zyklische Werden und Vergehen, die zyklische Zeit, wurde derart ergänzt oder ersetzt durch ein Instrument, mit welchem man einen Anfang und ein Ende beispielsweise des menschlichen Lebens bestimmen konnte.

Es fällt auf, dass die ägyptische Trinität eine ausschliesslich männliche Angelegenheit darstellt, obwohl im zugehörigen Mythos Isis als Gottesgebärerin eine wichtige Rolle spielt. Isis fällt nämlich die Aufgabe zu, den von seinem Bruder Seth zerstückelten Körper des Osiris wieder zusammenzusetzen. Dabei findet sie jedoch den Phallus des toten Osiris nicht mehr und ersetzt ihn kurzerhand durch einen hölzernen. Aus diesem hölzernen Phallus des Osiris heraus zeugt nun der Ka in ihr den neuen Gottkönig Horus, beziehungsweise den Pharao. Die Idee der Ersetzung des natürlichen durch einen hölzernen Kultphallus zeigt uns dabei auch wieder, wie der natürliche Prozess der biologischen Zeugung durch einen künstlichen, die Idee der geistigen Zeugung, ersetzt wurde. Mir persönlich scheint, dass der Ausschluss der Isis aus der göttlichen Trinität seine Begründung darin hat, dass die revolutionäre Idee einer rein geistigen Zeugung durch den Einbezug des weiblichen Prinzipes in Gefahr gewesen wäre, wieder in die Anschauung einer biologischen oder vegetativen Zeugung und damit zur alten Idee des ewig gleichbleibenden Werdens und Vergehens des natürlichen Schöpfungsprozesses zu regredieren. Diese Regression hätte jedoch die ersten Funken der Entstehung eines individuellen Bewusstseins, welches vorläufig noch dem Pharao vorbehalten war, später aber auf jedes Individuum übertragen wurde, zum Erlöschen bringen können.

 

 

 Die Idee der ausschliesslich männlichen göttlichen Trinität unter Ausschaltung der Gottesgebärerin, somit der Archetypus der Trinität, setzte sich auch im Christentum voll durch und bildet derart heute noch ein Unterscheidungskriterium zum streng monistischen jüdischen Gott Jahwe. Doch besteht zwischen der ägyptischen Gottesanschauung und der christlichen Trinität aus Vater, Sohn und Heiligem Geist ein wesentlicher Unterschied. War die ägyptische eine vertikale Trinität, so bildete sich im Christentum eine horizontale aus, welche zudem noch in das Oben, den Himmel und den oberen Geist projiziert wurde. Gottvater, Gottsohn und der Heilige Geist bilden nämlich eine wesensgleiche Trinität, welche ihren Sitz im christlichen Himmel hat. Von Unterwelt und Totenreich ist hier nicht mehr die Rede. Entsprechend dieser "Erhöhung" des trinitarischen Gottes in den Himmel wurde auch der Heilige Geist ein "oberer" Geist, der mit der Erde, der Materie und dem Weiblichen nicht mehr viel gemeinsam hat (vgl. Übersicht 1.4).

 

 

 

 

 

1.6 Die Erlösung Gottes durch den Menschen

 

In einer weiteren Untersuchung hat C.G. Jung nachgewiesen, dass der Archetypus des Geistes, wenn man ihn empirisch-wissenschaftlich untersucht, eine ambivalente Doppelgestalt darstellt, ein Oben und Unten, ein Hell und Dunkel, ein Gut und Böse. Mit der Postulierung eines oberen Heiligen Geistes spalteten somit die Kirchenväter den dunklen, erdhaften und weiblichen Teil dieses Geistarchetypus ab, und er verfiel dem Teufel. Diese Aufspaltung des Geistarchetypus hatte bald einmal auch die dualistische Spaltung in Geist und Materie zur Folge. Geist wurde zu etwas rein Männlichem, die weibliche Welt hatte sich mit der Materie zu begnügen.

Die kompensatorische Idee zu dieser Spaltung der menschlichen und der göttlichen Welt in Geist und Materie bildet die gnostische Anschauung einer Vater-Mutter-Gottheit. In dieser Idee sind das Männliche und das Weibliche, Geist und Materie vereinigt. Dank dieser Konzeption erfuhren die Gnostiker den in der Materie verborgenen Geist, den Geist der Erde, den ägyptischen Ka-Osiris, und sie versuchten dessen Manifestationen in eine bewusste Erkenntnis über den oberen Gott umzusetzen. Der christlichen oberen und horizontalen Trinität setzten sie derart eine vertikale Dualität entgegen, einen Vater-Mutter-Geist, welcher in der Erde und der Materie wurzelte.

Neben der Idee einer Vater-Mutter-Gottheit besassen die Gnostiker eine weitere, nämlich jene eines grösseren inneren Menschen, des Anthropos, welcher jedem einzelnen Individuum innewohnt. Wir haben uns deshalb zu fragen, wie diese beiden Ideen zusammenhängen, und welche dogmatische Auffassung sie kompensieren. Der Anthropos erscheint in vielen Mythen vom Ursprung der Welt , und er wird als ein den ganzen Kosmos durchdringender riesiger Mensch vorgestellt, welcher alle einzelnen Menschenseelen zu einer überzeitlichen und überpersönlichen Einheit zusammenfasst. Bei den Gnostikern ist dieser Anthropos vorerst mit der obersten Gottheit identisch und wohnt als Lichtmensch in einem geistigen Jenseits. Doch wird er von bösen Mächten in die Materie hinuntergestossen, wo er sich in Tausende von Lichtfunken aufsplittert, was einem unerlösten Zustand entspricht. Die Befreiung dieses in der Materie versunkenen Anthropos bildet die Aufgabe jedes einzelnen Menschen, und durch die Lösung dieser Aufgabe erlöst sich der Mensch selber und verbindet sich mit dem oberen Lichtreich.

Wir sehen sofort, dass diese gnostische Idee eine grosse Verwandtschaft mit dem erneuerten Osirismythos der alten Ägypter aufweist. Auch dort wird ja ein "Unteres" aus der Materie befreit und in eine obere Sphäre übergeführt, ein Geist aus der Materie extrahiert und im neuen Pharao oder im Sonnengott Horus inkarniert, was dank der Struktur einer vertikalen Trinität Osiris-Ka-Horus gelang. Neu ist bei den Gnostikern jedoch die Idee, dass jeder einzelne Mensch durch ein bewusstes Bemühen diese Wiederherstellung des Anthropos im oberen Lichtreich als Aufgabe hat. Psychologisch gesehen heisst dies, dass der Mensch vorbewusstes Wissen, welches in einem "Unter-Bewusstsein", in der Materie, im Körper oder in seiner Triebhaftigkeit verborgen liegt, durch einen bewussten Akt der Erkenntnis in die Sphäre eines "Ueber-Bewusstseins" hinaufheben muss, womit er gleichzeitig sowohl mit diesem "Unter-Bewusstsein" als auch mit dem "Ueber-Bewusstsein" verbunden wird. Da dieses "Unter-Bewusstsein" zur Materie gehört, das "Ueber-Bewusstsein" hingegen zu einem Reich des Geistes und des Lichtes, die Materie ihrerseits dem Mütterlichen und Weiblichen, der Geist dem Väterlichen und Männlichen zugeordnet wird, ist die Verbindung zur Idee der Gottheit als doppelgeschlechtliche Vater-Mutter hergestellt. Trieb und Geist, "Unter-Bewusstes" und "Ueber-Bewusstes" werden derart durch das menschliche Bewusstsein zusammengeschlossen. Da gleichzeitig unteres vorbewusstes Wissen in erkennbaren "oberen" Geist umgewandelt wird, wird derart auch das Bewusstsein des Menschen ausgeweitet.

Man kann den revolutionären Gehalt dieser gnostischen Idee nicht genug betonen. Der kleine Wurm Mensch steigt in die Materie oder in seine eigene Triebhaftigkeit hinunter, um aus diesen einen Geist zu befreien, welcher das obere Gottesbild dauernd erneuert und wandelt. Derart ist der Mensch in den Prozess der Gotteswandlung mit einbezogen, und es ist letztlich sein Verdienst, dass diese Gotteswandlung überhaupt stattfinden kann. Dieser Einbezug des Menschen steht in völligem Gegensatz zur christlich-dogmatischen Auffassung, und er bildet die gnostische Kompensation dazu.

Mit diesen Ausführungen glaube ich den "gnostischen Traum" gedeutet und an die Ideen des urchristlichen Zeitgeistes angeschlossen zu haben. Die christliche Idee besagt, dass ein oberer, geistiger und rein männlicher Gott in der Form der Trinität von Gottvater, Heiligem Geist und Gottsohn, somit eine obere horizontale Trinität existiert. Die gnostisch-ägyptische Kompensation zu dieser Idee besteht in der Definition eines "vertikalen Gottes" mit einem "Vater" am oberen Ende und einer "Mutter" am unteren. Zwischen diesen beiden gegengeschlechtlichen Ausprägungen des einen Gottes steht der Mensch, das menschliche Bewusstsein, als ein Vermittler zwischen diesen beiden Polen. Während in der christlichen Auffassung ein geistiges Prinzip von oben auf die Menschen hinunterfliesst (Pfingstwunder), besagt die gnostische Idee, dass ein Geist der Mutter oder ein Geist der Erde vom Menschen aus letzterer befreit und in die obere, männliche Ebene übergeführt werden muss.

Der Einbezug der gnostischen Idee in die christliche Zentralidee hätte drei Auswirkungen nach sich gezogen :

a) Da dieser erdhafte Geist nur individuell und introvertiert erfahren werden kann, hätte dessen Einbezug in das Gottesbild gleichzeitig die gnostische Hypothese eines individuell und innerlich erfahrenen Gottes und damit die introvertierte Gabe des Menschen zur Erfahrung individueller Offenbarung bestätigt. Mit anderen Worten: Der introvertierte Explorationstrieb des Menschen wäre anerkannt worden.

b) Der in einem einmaligen Offenbarungsakt neu definierte Gott der Dogmatiker wäre von seinem Thron gestürzt worden, und das christliche Gottesbild hätte sich in einem dynamischen Wandlungs- und Redefinitionsprozess weiterentwickelt. Dies deshalb, weil durch eine Befreiung von vorbewusstem Wissen aus dem unteren Geist der Erde und von dessen Umwandlung in neue "überbewusste" Erkenntnis durch den einzelnen Menschen der obere und geistige Teil der Gottheit durch neues Wissen dauernd erweitert worden wäre.

c) Das Gottesbild hätte sich von der Trinität zu einer Quaternität gewandelt. Zentrale Gestalt dieser Quaternität wäre der empirische Archetypus des Geistes mit seiner ambivalenten mannweiblichen Doppelgestalt geworden, dessen dunkler und "weiblicher" Teil in die Erde und in die Triebhaftigkeit hinuntergeragt hätte. Dieser Geistarchetypus hätte gleichzeitig den einseitig hellen und nur männlichen Heiligen Geist der Dogmatiker ersetzt.

Wenn wir die Vereinigung des christlichen mit dem gnostischen Gottesbild graphisch darstellen, ergibt sich folgendes:

 

 Das Gottesbild besteht nun aus einer Quaternität, wobei der Geistarchetypus durch seine Eigenschaft der mannweiblichen Doppelgestalt die obere Gottheit mit der unteren verbindet. Der Mensch versteht sich als Mittler zwischen diesen Gegensätzen. Er befreit "weiblichen" Geist der Erde und transformiert diesen in einem bewussten Erkenntnisprozess aus der unteren Welt der Triebhaftigkeit in die obere göttliche Welt, wobei derart gleichzeitig das obere Gottesbild dauernd gewandelt wird. Religionspsychologisch spricht man bei diesem Prozess vom Archetypus der Gotteswandlung.

Dieses dem Menschen ähnlich wie die triebhaften "patterns of behaviour" eingeprägte Verhaltensmuster des Archetypus der Gotteswandlung lehnten die Kirchenväter ab. Ein Archetypus lässt sich jedoch auf die Dauer weder unterdrücken noch verdrängen. Im Laufe der christlichen Geistesgeschichte setzte sich dieses archetypische Geschehen immer und immer wieder durch, so vor allem in den Phantasien und Visionen der Alchemie. Ich werde darauf im zweiten Kapitel zurückkommen.

An dieser Stelle sei jedoch schon angemerkt, dass den Gnostikern eine wesentliche Voraussetzung für den Prozess der Wandlung des unteren Gottes in einen oberen fehlte. Ihre untere Gottheit, die "Mutter", war nämlich noch rein unitarisch. Erst in der Alchemie des Paracelsus bildet diese untere Gottheit eine Trinität, nämlich jene von Sulphur (Schwefel), Mercurius (Quecksilber) und Sal (Salz). Erst die Differenzierung in eine untere Trinität hat die Möglichkeit einer Umwandlung des untern Gottesbildes in ein neues oberes geschaffen . Da die Alchemisten in ihrem Bewusstsein jedoch der Trinitätsidee der Kirchenväter verbunden blieben, glaubten auch sie an ein unwandelbares oberes Gottesbild. Ihr Versuch der Wandlung des Gottesbildes war deshalb zum Scheitern verurteilt.

Ein eindrückliches Beispiel dieses Archetypus der Gotteswandlung finden wir jedoch in der Kabbala des Isaac Luria (1534 1572) . Als Gott den zehngliedrigen Sefiroth-Baum, ein Bild des gnostischen Anthropos schuf, waren nur die oberen drei Sefiroth stark genug, um das göttliche Licht aufzunehmen. Die übrigen waren zu schwach und brachen auseinander, wobei sie dem Bösen, dem Dämonischen und der Materie verfielen. Mit diesem Zerfall des Anthropos wurde ein Zustand der Unerlöstheit Gottes und der Menschen geschaffen. Der Mensch hat deshalb die Aufgabe des "tikkun", der Wiederherstellung des Anthropos in seiner ursprünglichen Ganzheit. Derart hilft jeder Einzelne der Gottheit, die Katastrophe der Zerstörung der Weltschöpfung rückgängig zu machen. Wenn man die Katastrophe der heutigen Welt betrachtet, so dürfte sich der Gedanke aufdrängen, dass eine derartige Methode die einzigartige und wahrscheinlich allerletzte Chance der Rettung der Menschheit vor der endgültigen Vernichtung darstellt.

C.G. Jung war von der Idee der Lurianischen Kabbala begeistert. Er sah darin, und damit letztlich auch in der Idee einer Vereinigung des "gnostischen Traumes" mit den Zentralideen der christlichen Kirchenväter, eine mystische Entsprechung seiner in der empirischen Praxis gefundenen Idee des Individuationsprozesses. Er schreibt in einem Brief : "Hier taucht zum ersten Mal der Gedanke auf, dass der Mensch Gott helfen muss, den Schaden, den die Schöpfung angerichtet, wieder gutzumachen. Zum ersten mal wird hier die kosmische Verantwortung des Menschen anerkannt".

 

 

 

1.7 Die Folgen der Verdrängung der Idee der Gotteswandlung

 

Damit sind wir bei den letzten Ausführungen dieses ersten Kapitels angelangt. Wir wollen uns darin noch kurz mit den Folgen der Verdrängung der gnostischen Ideen durch die Kirchenväter befassen. Wir können zwei wesentliche Folgen unterscheiden:

Die Anschauung eines rein männlichen, in einem einmaligen Schöpfungsakt geschaffenen Gottes führte als logische Folge zu der Ansicht, dass das Gottesbild der Kirchenväter keiner Wandlung fähig ist. Denn Gott wurde in einem einmaligen Offenbarungsakt ein für alle mal und völlig unabänderlich geschaffen. Dabei spielt Christus die Rolle einer einmaligen historischen Gestalt, welche als Gottmensch die ebenso einmalige Gabe hatte, direkt mit Gottvater zu verkehren und von ihm bisher unbewusstes genauer vorbewusstes Wissen zu empfangen und in eine Erkenntnis umzusetzen, welche in den vier Evangelien niedergelegt ist.

Da Struktur und Ablauf dieses Erkenntnisprozesses damals noch völlig unbekannt waren, konnten die Kirchenväter auch keine empirischen Beweise für die Richtigkeit dieser Offenbarungen angeben. Sie verschanzten sich deshalb hinter metaphysischen Behauptungen, welche vom heutigen wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Standpunkt aus gesehen sehr zweifelhaft sind. Infolge dieses Unverständnisses des Mechanismus dieses Offenbarungsprozesses mussten die Kirchenväter Erkenntnis durch Glauben ersetzen und diesen Glauben mit dogmatischem Fanatismus verteidigen.

Da dieses Gottesbild zugleich rein männlich und geistig war, förderte das Christentum unbewusst die einseitige Entwicklung des Prinzips des Logos, dessen Perversion wir heute im rationalistisch-materialistischen Weltbild und dessen katastrophalen Folgen so eindrücklich erleben. Gleichzeitig wurde die weibliche Welt des Eros , die Welt der Beziehungsfähigkeit, verdrängt und verfiel der triebhaften Aggression und Sexualität. Aus dieser Triebhaftigkeit wird deshalb der Eros im Zeitalter des Aquarius befreit werden müssen. Sinnigerweise entdeckte ausgerechnet die Physik, jene Wissenschaft, welche sich mit der vermeintlich unbelebten Materie beschäftigt, die Welt des Eros, die Welt der Beziehung aller mit allem, als Projektion in der Wellentheorie der subatomaren Materie wieder .

Die erste Verdrängung der christlichen Kirchenväter bestand also darin, den gnostischen Archetypus der Gotteswandlung von unten nach oben auszurotten. Da dieser Archetypus durch eine Haltung der introvertierten Exploration und Meditation, somit durch eine individuelle und vorurteilslose Meditation über das innere Gottesbild in jedem Einzelnen erfahren wird, waren die Kirchenväter natürlich auch sehr daran interessiert, den introvertierten Explorationstrieb im Menschen zu unterdrücken . Dies gelang ihnen denn auch fast vollständig bis zur ersten christlichen Jahrtausendwende, dem schon früh vorausgesagten Zeitpunkt des Erscheinens des Antichrists.

Von der modernen biologischen Forschung wird der Explorationstrieb - der Religionsphilosoph Rudolf Otto nennt ihn den "mystischen Trieb" - immer mehr als ein Grundtrieb erkannt. Er äussert sich im Tier vor allem in seiner extravertierten Variante, und nur der Mensch scheint die Fähigkeit zu besitzen, diese triebhaftextravertierte Exploration in einem bewussten Akt zu introvertierten und derart in eine Meditation über sich und das in ihm latent vorhandene Gottesbild umzuwandeln. Diese zutiefst menschliche Fähigkeit, welche wahrscheinlich dazu beigetragen hat, den homo sapiens über die Tierstufe hinauswachsen zu lassen, wurde von den Kirchenvätern somit verdrängt und ausgemerzt.

Allerdings hatten sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Ein Archetypus, hier derjenige der Wandlung des Gottesbildes im Menschen, lässt sich ebensowenig wie ein pattern of behaviour ausrotten. Er wird sich unbewusst und damit in destruktiver Art und Weise trotz des bewussten Widerstandes durchsetzen. Ein furchtbares Beispiel dafür sind die Inquisition und die Hexenprozesse, auf die ich weiter unten zurückkommen werde.

Im Laufe der christlichen Zeitgeschichte gabe es immer wieder Individuen oder ganze Volksgruppen, welche den Widerstand gegen den Archetypus der Gotteswandlung und gegen die introvertierte Exploration und Meditation aufgeben mussten, weil ihnen unmittelbar erfahrene Offenbarungen der Gotteswandlung zustiessen. Ich meine damit die christlichen Mystiker und die von diesen initiierten Bewegungen, welche aus begreiflichen Gründen den Kirchenvätern immer ein Dorn im Auge waren. Zu gewissen Zeiten hatten diese Dogmatiker aller Hände voll zu tun, um Traktate gegen diese Mystiker und Gnostiker zu verfassen - es sei an das berühmte Traktat Adversus haereses des Lyoner Bischofs Irenaeus aus dem Jahr 170 erinnert - , ihre Schriften zu verbrennen und sie schliesslich dem Henker oder dem Scheiterhaufen auszuliefern.

Um die Jahrtausendwende, dem prophezeiten Datum des Erscheinens des Antichrist, schossen in ihrem Wesen gnostisch geprägte Sekten wie Pilze aus dem Boden. Die bekanntesten davon sind jene der Katharer, der Waldenser und der Heilig-Geist-Bewegung des Abtes Gioacchino da Fiore. Im fünfzehnten Jahrhundert wurde der Schweizer Mystiker Niklaus von Flüe von originalen Visionen überfallen, welche ihm unbewusst das geglaubte Gottesbild kompensierten und korrigierten. Die heute unter dem Begriff Gralslegenden zusammengefassten Epen der höfischen Dichtung sind ein weiteres Beispiel für eine solche Gegenströmung gegen das offizielle Christentum, in welcher die Kirche keine Rolle spielte.

Am mächtigsten und symbolträchtigsten entpuppte sich jedoch die häretische Gegenströmung der Alchemie. In dieser ist in einer grossartigen Symbolik die reiche Fülle dieser kompensatorischen Visionen und Urideen ausgebreitet, weshalb sich C.G. Jung in seinem Alterswerk intensiv mit der Alchemie beschäftigte.

Aber auch in der modernen subatomaren Physik, in der Elementarteilchen und Quantenphysik (Neue Physik), entwickelte sich ein unbewusstes und deshalb in der Materie beobachtetes neues Gottesbild. Fritjof Capra hat die Verwandtschaft der physikalischen Ideen mit der östlichen Mystik herausgearbeitet. Dabei kam er zum Schluss, dass aus der Sicht der Physiker die Materie "meditiert". Wir werden unten sehen, dass dieser Fehlschluss darauf beruht, dass die Physiker sich voll und ganz mit der extravertierten Exploration identifizieren. Da sie das introvertiert-meditative Bewusstsein des Menschen nicht als Erkenntnisinstrument anerkennen können, erleben die Physiker dieses als eine Projektion in die Materie. Der Nichtphysiker Gary Zukav, der mit seinen Tanzenden Wu Li Meistern ebenfalls den Versuch eines Vergleichs der östlichen Mystik mit der modernen Physik unternahm, hat daraus die persönlichen Konsequenzen gezogen: Er lebt heute zurückgezogen und wird wohl seine Erkenntnisse auf die Weiterentwicklung seines introvertiert-meditativen Bewusstseins anwenden.

Schon Fritjof Capra hat den Wunsch geäussert, dass die zentralen Ideen der Neuen Physik einmal mit jenen der christlichen Mystik verglichen werden. In meinem Buch werde ich diesen Versuch wagen. Dabei bin ich mir darüber im Klaren, dass dies nur ein erster und vorläufiger Ansatz sein kann, den ein Physiker hoffentlich einmal fortsetzen wird.

Die Verdrängung der individuell erlebten introvertierten Exploration durch die Kirchenväter, in psychologischer Sprache: die Verdrängung des Sinnes des gnostischen Traumes, zeitigte katastrophale Folgen, welche uns heute erst langsam bewusst werden. Die Exploration wurde durch die Massnahmen der Kirchenväter nämlich voll in die Extraversion umgelenkt und blieb derart auf der Triebstufe stehen. Ein Vergeistigungsprozess der Exploration, das heisst letztlich deren Umwandlung in das introvertierte Prinzip der Meditation, wurde derart verunmöglicht. Die extravertiert-triebhaft gelebte Exploration führte deshalb zum ersten mal im Zeitalter der Kreuzzüge, später dann zu Beginn der Neuzeit, folgerichtig in den aggressiven Entdeckerwahn der damaligen Christen hinein, in welchem diese fast alle archaischen nichtchristlichen Kulturen ausrotteten. Eine direkte Folge der Verdrängung der introvertierten Meditation über das Gottesbild stellt auch das industrielle Zeitalter mit seiner fast ausschliesslich extravertierten Wissenschaftlichkeit und der Überbetonung und Überentwicklung der Technik dar. Wissenschaftliche Wahrheit wurde derart im Aussen gesucht, durch eine Untersuchung der äusseren physischen Welt, unter Vernachlässigung der inneren psychischen Voraussetzungen des wissenschaftlichen Beobachters. Erst die Quantenphysik und die Psychologie C.G. Jungs haben hier eine Wende gebracht, indem beide Wissenschaftszweige erkannten, dass der Experimentator beziehungsweise der psychologische Beobachter einer Unschärferelation unterliegen.

 

Homepage Remo F. Roth

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