1.4
Die Wespenphobie und das Gegensatzproblem zwischen Logos und Eros
Pauli selbst hat diesen möglichen parapsychologischen Hintergrund
seiner Wespenphobie nie gesehen. Er meint im Laufe des Jahres 1934
(Brief [30]) aufgrund der Einsichten der psychoanalytischen
Prozedur dem intellektuellen Verständnis seiner Wespenphobie
näher gekommen zu sein. Er deutet die hellen und dunklen Streifen
der Wespen als „polar entgegen-gesetzte psychische Einstellungen
bzw. Dispositionen zu Verhaltensweisen“. Diese polaren
Einstellungen konkretisiert er dann einerseits als den Pol von
„Ethik, Religion, Gefühlsbeziehung sowie … sinnlichem
Empfinden, Erotik, Sexualität“. Den entgegengesetzten Pol bilde
„ein Hang zum Kriminellen, zum Raufbold“ und zum
„intellektuellen ‚Aufklärer’“. Daher sei er in der ersten
Lebenshälfte zu anderen Menschen auch „ein zynischer, kalter
Teufel“ gewesen.
Diese Selbstanalyse Wolfgang Paulis können wir in
allgemeinere Begriffe gefasst als die Erkenntnis des Gegensatzes
zwischen den Prinzipien des Logos und der Aggression auf der einen
Seite, und des Eros und der Sexualität auf der anderen deuten.
Diese Gegensatzspannung bildet das Lebensthema Paulis, und zwar
sowohl auf der persönlichen als auch auf der kollektiven Ebene.
Wie
wir sehen werden,
kann Pauli das konstellierte Problem auf der Ebene des Logos im
Laufe der nächsten 20 Jahre seines Lebens lösen. Im Laufe der
Zeit wird sich nämlich sein abstrakter mathematischer Intellekt,
mit dem sein Ich sich identifizierte[1],
in eine Annäherung an das tiefere Prinzip des Logos wandeln,
welcher Fortschritt sich in seiner kritischen Mitarbeit bei der
Entwicklung von Jungs Synchronizitäts-Hypothese zeigen wird. Im
Gegensatz zum rein rationalen Intellekt berücksichtigt der Logos
das introvertierte Gefühl, welches dem Synchronizitäten
Erlebenden zeigt, ob und wie weit innere und äussere Phänomene
zusammen gehören und einen gemeinsamen Sinn enthalten. Derart
grenzt die von Jung vorgeschlagene introvertierte Gefühlsfunktion
die Synchronizität vom sinnlosen Zufall ab. Während letzterer
den Hintergrund der statistischen Kausalität der Quantenphysik
bildet (und von Pauli statistische Korrelation genannt wird),
stellt die Synchronizität die Quintessenz der Jungschen
tiefenpsychologischen Erkenntnis dar.
Auf der
Beziehungsebene lässt sich bei Pauli eindeutig eine Verbesserung
des extravertierten Gefühls erkennen, welcher Wandel sich vor
allem in jenen Briefen zeigt, in denen er über seine zweite Frau
schreibt. Aber auch die Beziehung zu Aniela Jaffé, der
Sekretärin und Mitarbeiterin C.G. Jungs, die im heute
veröffentlichten Wissenschaftlichen
Briefwechsel dokumentiert ist, zeigt eine Wärme der
Beziehung, die man dem „zynischen, kalten Teufel“ eigentlich
nicht zugetraut hätte.
Den persönlichen Eros, die Beziehungsfunktion zu
anderen Menschen, will Pauli ausserhalb der Psychoanalyse
entwickeln. Am Ende des Jahres 1934, nach seiner Heirat mit Franca
Bertram[2],
äussert er in Brief [7] daher den Wunsch „von Traumdeutung u.
Traumanalyse wegzukommen“ und daher „meine Besuche bei Ihnen
zunächst nicht fortzusetzen“, um sich auf das äussere Leben zu
konzentrieren. Er wisse, dass „eine Entwicklung der
Gefühlsfunktion“ sehr wichtig sei, diese jedoch „nun durch
das Leben im Laufe der Zeit allmählich erfolgen könnte“.
Meine
weiteren Ausführungen
werden zeigen, dass Pauli das Geheimnis des kollektiven
Eros, das in ihm als tiefstes Lebensproblem
konstelliert war, nicht lösen konnte. Dieser kollektive Eros
konstelliert sich zudem – wie Pauli im oben erwähnten Zitat
schreibt, im Zusammenhang mit „Religion“, das heisst mit einem
Hang zur religiösen Mystik im weitesten Sinn – bereits während
seiner Psychoanalyse, welcher Umstand Jungs Intuition dazu
veranlasst haben dürfte, dem Quantenphysiker zu empfehlen, das
Ranft des Schweizer Mystikers Niklaus von Flüe bei Sachseln (in
der Nähe von Luzern) aufzusuchen und dort dessen Visionen[3]
zu betrachten (vgl. dazu Abschnitt 1.5, unten).
Da
der kollektive Eros – oder der Eros-Archetypus,
wie ich dieses Prinzip auch nennen will – ein bis heute sowohl
von der Naturwissenschaft als auch von der Tiefenpsychologie
ausgeschlossenes Prinzip bedeutet, dessen Verständnis für unsere
weiteren Untersuchungen jedoch unbedingt vorausgesetzt werden
muss, den Rahmen des Briefwechsels jedoch sprengen würde, habe
ich die betreffenden Gedanken Paulis und meine weiterführenden
Schlüsse in der Appendix
I dargestellt.
Hier
sei nur bemerkt, dass der Nobelpreisträger zur
"Integration" des kollektiven Eros seinen
erkenntnistheoretischen Standpunkt hätte überwinden und das von
mir so genannte introvertierte Eros-Bewusstsein
hätte entwickeln müssen.
Dieses neuartige Bewusstsein, das meines Erachtens letztlich eine
Rückkehr zum Bewusstsein der hermetischen Alchemisten auf einer
höheren erkenntnistheoretischen Stufe bedeutet, hat Pauli nicht
realisieren können. Er muss derartige Zusammenhänge jedoch
subliminal geahnt haben, wie eine Stelle in einem späteren Brief[4]
an Markus Fierz zeigt. Darin postuliert er nämlich die
tiefsinnige Einsicht: „Das noch Ältere ist immer das Neue“.
Wie
ich in Appendix
I gezeigt habe, wollte Pauli auch die Welt des
kollektiven Eros erkenntnistheoretisch beschreiben. Als
Wissenschaftler und theoretischer Physiker suchte er daher nach
einer „neutralen Sprache“, die sowohl die Physik als auch die
Tiefenpsychologie enthält. So glaubte er die wissenschaftliche
Erkenntnis mit der mystischen Heilserkenntnis zur „einen Erkenntnis“ zusammen bringen zu können. Das Phänomen der
Sexualität und erst recht jenes des Eros-Archetypus werden jedoch
in erster Linie erfahren und erlebt und nicht theoretisch
beschrieben. Zur Erfahrung des letzteren wäre jedoch eben die
Entwicklung des Eros-Bewusstseins nötig gewesen.
Mit
der Einführung der Mathematik in die Naturwissenschaft im 16. und
17. Jahrhundert ging dieses mystische Bewusstsein verloren. Die
Wissenschaft beschränkte sich von nun an auf die Beschreibung der
Naturphänomene mit Hilfe der nur im Aussen angewandten
empirischen Beobachtung. Paulis Aufgabe wäre es jedoch gewesen,
eben diese empirische Methodologie der Naturwissenschaft, das
heisst die reine Beobachtung, auf die Erforschung des kollektiven
Eros anwenden und die erkenntnistheoretischen Schlüsse
zurückzustellen. So hätte er einerseits das alchemistische
Prinzip des "Wie aussen, so innen" in sein Leben
integrieren können, und so wäre auch seine Einsicht, dass das
noch Ältere immer die Wurzel des Neuen enthält, in seiner
eigenen Seele Wirklichkeit geworden.
Zusammenfassend
können wir feststellen, dass Pauli seine Wespenphobie kausal auf
ein in ihm konstelliertes Gegensatzproblem zwischen (intellektuell
eingeschränktem) Logos und Eros zurückführt. Er wird – nach
der Diagnose der Ursache seiner Wespenphobie – das Problem der
Erweiterung des Intellekts in das Prinzip des Logos erfolgreich an
die Hand nehmen, so das introvertierte Gefühl entwickeln und mit
dessen Hilfe das Synchronizitätsprinzip C.G. Jungs in sein
Weltbild einfügen.
Weiter
wird er seine extravertierte Gefühlsfunktion entwickeln und so
den "zynischen, kalten Teufel" - zum mindesten in Bezug
auf seine psychologischen Gesprächspartner - überwinden.
Es
wird ihm jedoch infolge seiner Verhaftung an die
erkenntnistheoretische Methodologie und damit an die Denkfunktion nicht
vergönnt sein, das introvertierte, auf die „Innenansicht des
eigenen Körpers“ und so auf den kollektiven Eros gerichtete
Eros-Bewusstsein
zu
entwickeln, obwohl sich diese Aufgabe schon während seiner
Psychoanalyse in den frühen Dreissigerjahren konstelliert und er
sich im Laufe seines Lebens intensiv mit den epistemiologischen
Hintergründen der westlichen und der östlichen Mystik
beschäftigen wird.
weiter
Auch
C.G. Jung hat sich in einem kurzen Artikel mit dem Schweizer
Heiligen beschäftigt (GW 11, § 474ff.). Er meint, dass
Niklaus von Flüe, “der einzige hervorragende
schweizerische Mystiker von Gottes Gnaden, unorthodoxe
Urvisionen hatte und unbeirrten Auges in die Tiefen jener göttlichen
Seele blicken durfte, welche alle,
durch Dogmatik getrennten Konfessionen der Menschheit noch in
einem symbolischen Archetypus vereinigt enthält”.