Appendix II:
Das
Eros-Bewusstsein
als
Erweiterung von C.G. Jungs Typologie
Inhalt:
1.
C.G. Jungs Typologie des Bewusstseins
2.
Das kollektive Logos-Bewusstsein und das inferiore Gefühl
3.
Das Eros-Bewusstsein und die Körperzentrierte
Imagination im inneren Hier und Jetzt
1.
C.G. Jungs Typologie des Bewusstseins
C.G. Jung hat im Jahr 1921 eine Typologie des
Bewusstseins publiziert[1],
die mir in meiner mehr als dreissigjährigen therapeutischen
Arbeit sehr wertvoll und hilfreich geworden ist. Er unterscheidet
darin vier sogenannte Funktionstypen, das Gefühl, das Denken, die
Intuition, und die Empfindung. Letzere ist dabei im Sinne des
englischen „sensation“ zu verstehen, nämlich die Orientierung
über die fünf Sinne. Jede dieser Funktionen kann introvertiert
oder extravertiert gelebt werden, so dass sich im Ganzen acht
verschiedene Typen des Bewusstseins ergeben.
Eine weitere Unterscheidung Jungs besteht darin,
dass er das Denken und das Gefühl als rationale Funktionen bezeichnet,
da beide sich ein Urteil
über die Welt bilden, das Denken mit Hilfe logischer
Konstruktionen, das Gefühl über Werturteile im Sinne einer
qualitativen Schätzung. Folgerichtig nennt der Tiefenpsychologie
diese beiden die urteilenden
Funktionen.
Intuition und Empfindung (sensation) sind demgegenüber
irrationale
oder wahrnehmende
Funktionen. Die Empfindung nimmt mit der Hilfe der
fünf Sinne, dem Hören, dem Sehen, dem Riechen, dem Schmecken und
dem Tastsinn die äussere Realität wahr, die Intuition entspricht
dem sechsten Sinn, der Ahnung von versteckten, vermeintlich nicht
vorhandenen Zusammenhängen oder Fakten sowie von zukünftigen
Entwicklungen.
C.G. Jung hat diese für ihn vollständige
Typisierung des Bewusstseins in folgende einprägsame Kurzformel
gekleidet[2]:
„Die Empfindung (das
heisst Sinneswahrnehmung) sagt, dass etwas existiert; das Denken sagt, was es ist; das Gefühl
sagt, ob es angenehm oder unangenehm ist; und die Intuition sagt, woher es kommt und wohin es geht.“
Er betont auch, dass der Ausdruck „Gefühl“ sich
in seiner Definition auf ein Werturteil bezieht – angenehm oder
unangenehm, gut oder böse, usw. – , dass darin jedoch keine
Emotion mit eingeschlossen ist. Da das Gefühl im Gegensatz zur
unwillkürlichen Emotion bewusst eingesetzt werden kann, ist diese
Funktion für ihn ebenso rational wie das Denken.
Dem Bewusstsein stehen nie alle vier Funktionen zur
Verfügung. Jung langjährige Beobachtung hat ihm bestätigt, dass
eine der Funktionen die sogenannte Hauptfunktion darstellt, während
zwei weitere als erste und zweite Hilfsfunktion (Auxiliärfunktion)
eingesetzt werden können. Eine derartiges „trinitarisches“
Bewusstsein ist jedoch nicht einfach von der Geburt her gegeben,
sondern es entwickelt sich im Laufe des Lebens aufgrund der
schulischen und beruflichen Anforderungen.
Denken und Gefühl einerseits und Empfindung und
Intuition andererseits bilden strikte Gegensätze, so dass der
Tiefenpsychologe sie auch in einem Kreuzschema darstellt: Auf der
einen Achse Denken und Gefühl, auf der anderen Empfindung und
Intuition.
2.
Das kollektive Logos-Bewusstsein und das inferiore Gefühl
Eine
der wichtigsten Voraussetzungen, die Jung als aus seiner
therapeutischen Beobachtung abgeleitet sehen will, ist das Phänomen
der sogenannten inferioren Funktion[3].
Es ist dies die Gegenfuntion der Hauptfunktion, das heisst, für
das Denken das Gefühl, für die Empfindung die Intuition, für
das Gefühl das Denken und für die Intuition die Empfindung. Die
inferiore Funktion kann gemäss dem Tiefenpsychologen nicht in das
Bewusstsein integriert werden sondern ist sozusagen frei
flottierend. Da sie nicht beherrschbar ist, ist sie sehr stark mit
dem persönlichen Unbewussten (den Komplexen) und sogar mit dem
kollektiven Unbewussten (den Archetypen) verbunden. Sie bricht des
öfteren, beispielsweise in Freudschen Fehlleistungen, unbewusst
und gegen den Willen des Bewusstseins durch und bringt so,
extravertiert gelebt, das Individuum in eher peinliche
Situationen.
Das inferiore Gefühl lässt sich sehr gut in
intellektuellen Diskussionen verfolgen, wo es meist in einem
giftigen Nebensatz erscheint, dessen verletzende Wirkung dem
Denktyp jedoch völlig unbewusst bleibt. Ein Beispiel für ein
derartiges, mit dem intellektuellen Denken identisches Bewusstsein
findet sich beim jungen Wolfgang Pauli bis zu seiner Lebenskrise
mit gut 30 Jahren.
Die inferiore Empfindung ist sprichwörtlich beim
Intuitiven, der ja eben ein katastrophales Verhältnis zu seinem Körper
und zur materiellen Umgebung aufweist. Die inferiore Intuition
zeigt sich bei Empfindungstypen des öfteren in Phantasien
furchtbarer Katastrophenszenarien.
Schliesslich ist der Gefühlstypus in seinem Denken
inferior. Dies heisst allerdings nicht, wie Marie-Louise von Franz
betont, dass er nicht denken kann, sondern er ist nur in der Lage,
über Dinge nachzudenken, die von seinem Gefühl unterstützt
werden.
Seit dem 17. Jahrhundert, als die Mathematik die
Naturwissenschaft zu beherrschen begann, hat sich mit der Zeit ein
kollektives Bewusstsein ausgebildet, das man wie folgt beschreiben
kann: Das Denken wurde zur Hauptfunktion, die (extravertierte)
Empfindung zur ersten Hilfsfunktion. Diese beiden Funktionen
zeichnen das Bewusstsein des modernen Naturwissenschaftlers aus.
Die Ordnung kann auch umgekehrt sein, so dass die Empfindung an
erster Stelle kommt. Je nachdem zeigt sich ein ausgesprochenes
Interesse und eine völlige Beschränkung auf die Empfindung, wie
etwa bei Ernst Mach (vgl. dazu Wolfgang Paulis Bemerkungen in
Brief [60] des Briefwechsels mit Jung[4]),
dessen materialistischer Positivismus sprichwörtlich war. In
wissenschaftlichen Kreisen, vor allem an Universitäten, findet
sich auch die Kombination von Denken und Intuition. Derartige
Typen fühlen sich von der theoretischen Wissenschaft angezogen
und werden wie beispielsweise Wolfgang Pauli theoretische
Physiker. Sie hassen und Verachten die „Ingenieurmentalität“
(W. Pauli), in der eben die Empfindung an oberster Stelle steht.
Aufgrund dieser Feststellungen können wir also
postulieren, dass das moderne wissenschaftliche Bewusstsein aus
den Funktionen des Denkens, der Empfindung und der Intuition
aufgebaut wird. Die Intuition wird dabei allerdings des öfteren
wie eine Maitresse behandelt: Man benötigt sie sehr, steht aber
in der Öffentlichkeit nicht zu ihr…! Dieses Bewusstsein des
Wissenschaftlers wurde von C.G. Jung und W. Pauli als das trinitarische
Bewusstsein charakterisiert. Vor allem Pauli setzt
sich in seinem Wissenschaftlichen
Briefwechsel
sehr intensiv damit auseinander.
Eine hervorstechende Eigenschaft dieses modernen
Bewusstseins besteht in der meist totalen Verdrängung der Gefühlsfunktion
im wissenschaftlichen Experimentier- und Erkenntnisprozess. So
kommt es, dass die Natur geschändet und die von der Wissenschaft
geschändete Natur als die allein wirkliche dargestellt wird.
Pauli und Jung haben daher ein quaternäres wissenschaftliches
Bewusstsein gefordert, in dem das inferiore Gefühl mit berücksichtigt
wird.
Ich bezeichne dieses trinitarische wissenschaftliche
Bewusstsein als das auf den reinen Intellekt eingeschränkte
Logos-Bewusstsein. Es fehlt ihm die bewusste Auseinandersetzung
mit dem inferioren Gefühl. Wie ich im Text erwähnt habe und später
noch genauer ausführen werde, wandelte sich Wolfgang Pauli vom
reinen Intellektuellen, der sein Gefühl extrem verdrängte, zu
einem Denktypus, der lernte sein inferiores Gefühl mit
einzubeziehen. Dieses quaternäre Bewusstsein ist in seinem
Briefwechsel mit tiefenpsychologischen Briefpartnern – die meist
Partnerinnen waren – sehr gut spürbar. Es half ihm auch bei der
kritischen Mitarbeit mit C.G. Jung in Bezug auf dessen
Synchronizitätstheorie, da die Synchronizität eben voraussetzt,
dass das Gefühl mit einbezogen wird. Es ist die einzige Instanz,
die den sinnlosen vom sinnvollen Zufall abgrenzen und so die
Synchronizität als zur (statistischen) Kausalität komplementäres
Erklärungsmodell der Wirklichkeit einbeziehen kann.
Die Wissenschaft steht am Beginn des 21.
Jahrhunderts daher vor der Aufgabe, das inferiore Gefühl mit in
die Naturbetrachtung einzubeziehen. Nur so dürfte der „losgelöste“
oder „abgekapselte
Beobachter“ (detached observer; W. Pauli) wieder lernen, seiner
Wissenschaft gegenüber positive oder negative Werturteile
einzubeziehen und so sinnvolle von sinnloser, ja sogar
destruktiver Forschung zu unterscheiden. Natürlich würde ein
solcher Einbezug der inferioren Funktion eine neue Ethik bedeuten,
die die Kollektivmoral der wissenschaftlichen Wertfreiheit
hinterfragt.
3. Das Eros-Bewusstsein und die Körperzentrierte
Imagination im inneren Hier und Jetzt
Während der Erarbeitung der Jungschen Typologie
wurde mir nie so richtig klar, was der Tiefenpsychologe mit den
Begriff des introvertierten Gefühls und vor allem mit jenem der
introvertierten Empfindung (sensation) gemeint haben könnte. Wenn
er von der Empfindung spricht, meint er die fünf
Sinne, das heisst also eine auf das Aussen gerichtete Funktion. Wo
ist da die Introversion, das heisst die auf den „inneren Körper“
bezogene Empfindung? Mit anderen Worten: Wo bleibt das „innere Hier“?
Ebenso ist das Gefühl als Wertfunktion meist auf äussere
Dinge und Gegebenheiten bezogen. Kaum ein Mensch fragt sich heute
noch, wie das
„innere Jetzt“, das heisst die im Jetzt
wertende Einstellung, auf den eigenen Körper bezogen werden könnte.
Introvertierte, auf den Körper bezogene Empfindung und
introvertiertes Gefühl, das
innere Hier und Jetzt, scheinen daher beim modernen
Menschen – natürlich vor allem auch beim Wissenschaftler – sehr
stark verdrängt zu sein.
Mir dämmerte mit der Zeit, dass neben dem
Logos-Bewusstsein auch eine andere Art des kollektiven
Bewusstseins existieren muss. Es ist ein Bewusstsein, das das
Mittelalter – vor allem die mittelalterlichen Alchemisten –
geprägt hat, das ab dem 17. Jahrhundert jedoch immer mehr verdrängt
wurde. Ich nenne es das (introvertierte) Eros-Bewusstsein. Es besitzt das
introvertierte Gefühl als seine Hauptfunktion und
introvertierte Empfindung und Intuition als Hilfsfunktionen. Indem
es das Denken, die urteilende Funktion, sowie die extravertierte
Empfindung, die äussere Wahrnehmung ausschaltet, ist es zutiefst
auf die „Innenansicht des Körpers“ bezogen. Es kann so
Prozesse beobachten, deren Wahrnehmung dem Logos-Bewusstsein völlig
verschlossen ist.
Mit Hilfe des introvertierten Gefühls, der inneren
Wertfunktion, bestimmt das Eros-Bewusstsein den Zeitpunkt des
Jetzt, in dem es mit der von mir postulierten Körperzentrierten
Imagination – im Krankheitsfall Symptom-Symbol-Transformation
genannt – beginnt. Das innere Hier, der Ort der Transformation,
wird mit Hilfe der introvertierten Empfindung bestimmt. In diesem
inneren Hier und Jetzt findet dann die Transformation des
grobstofflichen in den feinstofflichen Körper, in die Körperseele
(Hauchkörper, subtle body) statt.
Ausführlichere Beschreibungen dieses Prozesses finden
sich im Text des Manuskriptes Der
Pauli/Jung-Briefwechsel. An dieser Stelle sei nur bemerkt,
dass dieser Transformationsprozess letztlich der Deifikation des Körpers
und so dem von Marie-Louise von Franz in ihrem Buch Traum
und Tod dargestellten Prozess des ägyptischen Kirchenvaters
Origenes entspricht (der dafür beinahe exkommuniziert worden
wäre).