Remo F. Roth

Dr. oec. publ., Ph.D.

dipl. analyt. Psychologe (M.-L. v. Franz)


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Der Briefwechsel zwischen Wolfgang Pauli und C.G. Jung 

Ein Dokument des ungelösten psychophysischen Problems des 20. Jahrhunderts


Appendix II:

Das Eros-Bewusstsein

als Erweiterung von C.G. Jungs Typologie


Inhalt:

1. C.G. Jungs Typologie des Bewusstseins

2. Das kollektive Logos-Bewusstsein und das inferiore Gefühl

3. Das Eros-Bewusstsein und die Körperzentrierte Imagination im inneren Hier und Jetzt 


 

1. C.G. Jungs Typologie des Bewusstseins  

C.G. Jung hat im Jahr 1921 eine Typologie des Bewusstseins publiziert[1], die mir in meiner mehr als dreissigjährigen therapeutischen Arbeit sehr wertvoll und hilfreich geworden ist. Er unterscheidet darin vier sogenannte Funktionstypen, das Gefühl, das Denken, die Intuition, und die Empfindung. Letzere ist dabei im Sinne des englischen „sensation“ zu verstehen, nämlich die Orientierung über die fünf Sinne. Jede dieser Funktionen kann introvertiert oder extravertiert gelebt werden, so dass sich im Ganzen acht verschiedene Typen des Bewusstseins ergeben.  

Eine weitere Unterscheidung Jungs besteht darin, dass er das Denken und das Gefühl als rationale Funktionen bezeichnet, da beide sich ein Urteil über die Welt bilden, das Denken mit Hilfe logischer Konstruktionen, das Gefühl über Werturteile im Sinne einer qualitativen Schätzung. Folgerichtig nennt der Tiefenpsychologie diese beiden die urteilenden Funktionen.  

Intuition und Empfindung (sensation) sind demgegenüber irrationale oder wahrnehmende Funktionen. Die Empfindung nimmt mit der Hilfe der fünf Sinne, dem Hören, dem Sehen, dem Riechen, dem Schmecken und dem Tastsinn die äussere Realität wahr, die Intuition entspricht dem sechsten Sinn, der Ahnung von versteckten, vermeintlich nicht vorhandenen Zusammenhängen oder Fakten sowie von zukünftigen Entwicklungen.  

C.G. Jung hat diese für ihn vollständige Typisierung des Bewusstseins in folgende einprägsame Kurzformel gekleidet[2]: „Die Empfindung (das heisst Sinneswahrnehmung) sagt, dass etwas existiert; das Denken sagt, was es ist; das Gefühl sagt, ob es angenehm oder unangenehm ist; und die Intuition sagt, woher es kommt und wohin es geht.“  

Er betont auch, dass der Ausdruck „Gefühl“ sich in seiner Definition auf ein Werturteil bezieht – angenehm oder unangenehm, gut oder böse, usw. – , dass darin jedoch keine Emotion mit eingeschlossen ist. Da das Gefühl im Gegensatz zur unwillkürlichen Emotion bewusst eingesetzt werden kann, ist diese Funktion für ihn ebenso rational wie das Denken.  

Dem Bewusstsein stehen nie alle vier Funktionen zur Verfügung. Jung langjährige Beobachtung hat ihm bestätigt, dass eine der Funktionen die sogenannte Hauptfunktion darstellt, während zwei weitere als erste und zweite Hilfsfunktion (Auxiliärfunktion) eingesetzt werden können. Eine derartiges „trinitarisches“ Bewusstsein ist jedoch nicht einfach von der Geburt her gegeben, sondern es entwickelt sich im Laufe des Lebens aufgrund der schulischen und beruflichen Anforderungen.  

Denken und Gefühl einerseits und Empfindung und Intuition andererseits bilden strikte Gegensätze, so dass der Tiefenpsychologe sie auch in einem Kreuzschema darstellt: Auf der einen Achse Denken und Gefühl, auf der anderen Empfindung und Intuition.  

 

 

2. Das kollektive Logos-Bewusstsein und das inferiore Gefühl  

Eine der wichtigsten Voraussetzungen, die Jung als aus seiner therapeutischen Beobachtung abgeleitet sehen will, ist das Phänomen der sogenannten inferioren Funktion[3]. Es ist dies die Gegenfuntion der Hauptfunktion, das heisst, für das Denken das Gefühl, für die Empfindung die Intuition, für das Gefühl das Denken und für die Intuition die Empfindung. Die inferiore Funktion kann gemäss dem Tiefenpsychologen nicht in das Bewusstsein integriert werden sondern ist sozusagen frei flottierend. Da sie nicht beherrschbar ist, ist sie sehr stark mit dem persönlichen Unbewussten (den Komplexen) und sogar mit dem kollektiven Unbewussten (den Archetypen) verbunden. Sie bricht des öfteren, beispielsweise in Freudschen Fehlleistungen, unbewusst und gegen den Willen des Bewusstseins durch und bringt so, extravertiert gelebt, das Individuum in eher peinliche Situationen.  

Das inferiore Gefühl lässt sich sehr gut in intellektuellen Diskussionen verfolgen, wo es meist in einem giftigen Nebensatz erscheint, dessen verletzende Wirkung dem Denktyp jedoch völlig unbewusst bleibt. Ein Beispiel für ein derartiges, mit dem intellektuellen Denken identisches Bewusstsein findet sich beim jungen Wolfgang Pauli bis zu seiner Lebenskrise mit gut 30 Jahren.  

Die inferiore Empfindung ist sprichwörtlich beim Intuitiven, der ja eben ein katastrophales Verhältnis zu seinem Körper und zur materiellen Umgebung aufweist. Die inferiore Intuition zeigt sich bei Empfindungstypen des öfteren in Phantasien furchtbarer Katastrophenszenarien.

Schliesslich ist der Gefühlstypus in seinem Denken inferior. Dies heisst allerdings nicht, wie Marie-Louise von Franz betont, dass er nicht denken kann, sondern er ist nur in der Lage, über Dinge nachzudenken, die von seinem Gefühl unterstützt werden.  

Seit dem 17. Jahrhundert, als die Mathematik die Naturwissenschaft zu beherrschen begann, hat sich mit der Zeit ein kollektives Bewusstsein ausgebildet, das man wie folgt beschreiben kann: Das Denken wurde zur Hauptfunktion, die (extravertierte) Empfindung zur ersten Hilfsfunktion. Diese beiden Funktionen zeichnen das Bewusstsein des modernen Naturwissenschaftlers aus. Die Ordnung kann auch umgekehrt sein, so dass die Empfindung an erster Stelle kommt. Je nachdem zeigt sich ein ausgesprochenes Interesse und eine völlige Beschränkung auf die Empfindung, wie etwa bei Ernst Mach (vgl. dazu Wolfgang Paulis Bemerkungen in Brief [60] des Briefwechsels mit Jung[4]), dessen materialistischer Positivismus sprichwörtlich war. In wissenschaftlichen Kreisen, vor allem an Universitäten, findet sich auch die Kombination von Denken und Intuition. Derartige Typen fühlen sich von der theoretischen Wissenschaft angezogen und werden wie beispielsweise Wolfgang Pauli theoretische Physiker. Sie hassen und Verachten die „Ingenieurmentalität“ (W. Pauli), in der eben die Empfindung an oberster Stelle steht.  

Aufgrund dieser Feststellungen können wir also postulieren, dass das moderne wissenschaftliche Bewusstsein aus den Funktionen des Denkens, der Empfindung und der Intuition aufgebaut wird. Die Intuition wird dabei allerdings des öfteren wie eine Maitresse behandelt: Man benötigt sie sehr, steht aber in der Öffentlichkeit nicht zu ihr…! Dieses Bewusstsein des Wissenschaftlers wurde von C.G. Jung und W. Pauli als das trinitarische Bewusstsein charakterisiert. Vor allem Pauli setzt sich in seinem Wissenschaftlichen Briefwechsel[5] sehr intensiv damit auseinander.  

Eine hervorstechende Eigenschaft dieses modernen Bewusstseins besteht in der meist totalen Verdrängung der Gefühlsfunktion im wissenschaftlichen Experimentier- und Erkenntnisprozess. So kommt es, dass die Natur geschändet und die von der Wissenschaft geschändete Natur als die allein wirkliche dargestellt wird. Pauli und Jung haben daher ein quaternäres wissenschaftliches Bewusstsein gefordert, in dem das inferiore Gefühl mit berücksichtigt wird.

Ich bezeichne dieses trinitarische wissenschaftliche Bewusstsein als das auf den reinen Intellekt eingeschränkte Logos-Bewusstsein. Es fehlt ihm die bewusste Auseinandersetzung mit dem inferioren Gefühl. Wie ich im Text erwähnt habe und später noch genauer ausführen werde, wandelte sich Wolfgang Pauli vom reinen Intellektuellen, der sein Gefühl extrem verdrängte, zu einem Denktypus, der lernte sein inferiores Gefühl mit einzubeziehen. Dieses quaternäre Bewusstsein ist in seinem Briefwechsel mit tiefenpsychologischen Briefpartnern – die meist Partnerinnen waren – sehr gut spürbar. Es half ihm auch bei der kritischen Mitarbeit mit C.G. Jung in Bezug auf dessen Synchronizitätstheorie, da die Synchronizität eben voraussetzt, dass das Gefühl mit einbezogen wird. Es ist die einzige Instanz, die den sinnlosen vom sinnvollen Zufall abgrenzen und so die Synchronizität als zur (statistischen) Kausalität komplementäres Erklärungsmodell der Wirklichkeit einbeziehen kann.  

Die Wissenschaft steht am Beginn des 21. Jahrhunderts daher vor der Aufgabe, das inferiore Gefühl mit in die Naturbetrachtung einzubeziehen. Nur so dürfte der „losgelöste“ oder  „abgekapselte Beobachter“ (detached observer; W. Pauli) wieder lernen, seiner Wissenschaft gegenüber positive oder negative Werturteile einzubeziehen und so sinnvolle von sinnloser, ja sogar destruktiver Forschung zu unterscheiden. Natürlich würde ein solcher Einbezug der inferioren Funktion eine neue Ethik bedeuten, die die Kollektivmoral der wissenschaftlichen Wertfreiheit hinterfragt.  

 

 

3. Das Eros-Bewusstsein und die Körperzentrierte Imagination im inneren Hier und Jetzt  

Während der Erarbeitung der Jungschen Typologie wurde mir nie so richtig klar, was der Tiefenpsychologe mit den Begriff des introvertierten Gefühls und vor allem mit jenem der introvertierten Empfindung (sensation) gemeint haben könnte. Wenn er von der Empfindung spricht, meint er die fünf Sinne, das heisst also eine auf das Aussen gerichtete Funktion. Wo ist da die Introversion, das heisst die auf den „inneren Körper“ bezogene Empfindung? Mit anderen Worten: Wo bleibt das „innere Hier“?  

Ebenso ist das Gefühl als Wertfunktion meist auf äussere Dinge und Gegebenheiten bezogen. Kaum ein Mensch fragt sich heute noch, wie das „innere Jetzt“, das heisst die im Jetzt wertende Einstellung, auf den eigenen Körper bezogen werden könnte. Introvertierte, auf den Körper bezogene Empfindung und introvertiertes Gefühl, das innere Hier und Jetzt, scheinen daher beim modernen Menschen – natürlich vor allem auch beim Wissenschaftler – sehr stark verdrängt zu sein.  

Mir dämmerte mit der Zeit, dass neben dem Logos-Bewusstsein auch eine andere Art des kollektiven Bewusstseins existieren muss. Es ist ein Bewusstsein, das das Mittelalter – vor allem die mittelalterlichen Alchemisten – geprägt hat, das ab dem 17. Jahrhundert jedoch immer mehr verdrängt wurde. Ich nenne es das (introvertierte) Eros-Bewusstsein. Es besitzt das introvertierte Gefühl als seine Hauptfunktion und introvertierte Empfindung und Intuition als Hilfsfunktionen. Indem es das Denken, die urteilende Funktion, sowie die extravertierte Empfindung, die äussere Wahrnehmung ausschaltet, ist es zutiefst auf die „Innenansicht des Körpers“ bezogen. Es kann so Prozesse beobachten, deren Wahrnehmung dem Logos-Bewusstsein völlig verschlossen ist.  

Mit Hilfe des introvertierten Gefühls, der inneren Wertfunktion, bestimmt das Eros-Bewusstsein den Zeitpunkt des Jetzt, in dem es mit der von mir postulierten Körperzentrierten Imagination – im Krankheitsfall Symptom-Symbol-Transformation genannt – beginnt. Das innere Hier, der Ort der Transformation, wird mit Hilfe der introvertierten Empfindung bestimmt. In diesem inneren Hier und Jetzt findet dann die Transformation des grobstofflichen in den feinstofflichen Körper, in die Körperseele (Hauchkörper, subtle body) statt.  

Ausführlichere Beschreibungen dieses Prozesses finden sich im Text des Manuskriptes Der Pauli/Jung-Briefwechsel. An dieser Stelle sei nur bemerkt, dass dieser Transformationsprozess letztlich der Deifikation des Körpers und so dem von Marie-Louise von Franz in ihrem Buch Traum und Tod dargestellten Prozess des ägyptischen Kirchenvaters Origenes entspricht (der dafür beinahe exkommuniziert worden wäre).



[1] heute als Band 6 in den Gesammelten Werken C.G. Jungs

[2] Jung, C.G., et al., Der Mensch und seine Symbole, Walter, Olten, 1968, S. 61

[3] Vgl. dazu auch Franz, M.-L. v., The Inferior Function, in: Franz; Hillmann, Jung’s Typology, Spring Pubications, NY, 1971

[4] Meier, C.A., Wolfgang Pauli und C.G. Jung – ein Briefwechsel 1932 – 1958, Springer, Berlin, 1992, S. 104ff.

[5] vor allem in den Jahren 1950 bis 1954; vgl. dazu Pauli, W., Wissenschaftlicher Briefwechsel, Hrsg. Meyenn, Springer, Berlin, 1996 und 1999.


See also further articles about Wolfgang Pauli in

http://www.psychovision.ch/rfr/roth_e.htm

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  6. März 2005